Alte und neue Normalität

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"Neue Normaliät" mag nach gefährlicher Drohung klingen, könnte aber auch den Aufbruch in eine humanere Gesellschaft bedeuten.

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"Neue Normaliät" mag nach gefährlicher Drohung klingen, könnte aber auch den Aufbruch in eine humanere Gesellschaft bedeuten.

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In der Politik ist die alte Normalität wieder eingekehrt: parteipolitisches Gezänk und Missgunst, peinliches Taktieren im parlamentarischen Prozess (Stichwort: Bundesrat), kleine Fehler (Stichwort: Walsertal) werden aufgebauscht, massive Probleme (Stichwort: Kurzarbeit) unter den Teppich gekehrt.

An Politiker gerichtete Rücktrittsforderungen werden alltäglich – dass ein Rücktritt sogar tatsächlich erfolgt, ist da die große Ausnahme. Ganz „normal“ überhitzt werden wohl auch die anstehenden Wahlkämpfe und Verteilungsdebatten werden. Schrille Emotionalität, empörtes Gegeneinander und Verachtung Andersmeinender zeichnen sich ab.

Angesichts dessen verwundert die Aufregung um den Begriff der „neuen Normalität“ – wenn doch ohnedies alles ins alte Fahrwasser zurückkehrt? Vielleicht spüren oder wissen die Aufgeregten, dass eben doch vieles anders werden wird: Jede Lebenserfahrung lehrt, dass emotionale Schocks nicht ohne Auswirkungen auf Psyche und weiteres Verhalten sind.

Zwar kann es über die Zeit hin gelingen, sie in das Ganze des Gewebes eines Lebens einzubinden, doch verändern sich unvermeidlich dessen Muster im Detail. Ein neues stimmiges Gesamtbild kann dabei umso eher gelingen, je klarer die Reflexion des Geschehenen und dessen Verarbeitung ist. Einkehr und Gespräch, Meditation und Dialog sind dazu essenzielle Instrumente; Verdrängung und überhitzte Kompensation führen früher oder später zu Aggression, Zusammenbruch oder Selbstzerstörung.

Ich wünsche uns als Gesellschaft, dass es gelingt, nicht more of the same der alten Normalität zu leben (und das noch dazu auf einer höheren Eskalationsstufe), sondern dass eine neue Normalität entsteht, in der die Schocks, die Millionen Einzelne und mit ihnen die Gesamtgesellschaft erfahren haben, im Gemeinsamen reflektiert und verarbeitet sind.

Der Autor ist Professor für Arbeits- und Sozialrecht und Leiter des Instituts für Familienforschung.

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