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Knurrende Mägen

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Ein nationales Verteilungssystem wurde in Chile neuerdings sowohl im Groß- als auch im Kleinhandel eingeführt. Um es vorwegzunehmen: Ein Konglomerat von Kontroll- und Verteilungsbehörden ist am Werk, wobei eben nur die zu verteilenden Lebensmittel fehlen. Das „Nationalsekretariat für Verteilung“ und die „Versorgungs- und Preisräte“ ringen erfolglos miteinander und mit den Forderungen der Bevölkerung. Ihre nicht gerade beruhigende, stereotype Antwort lautet: „Eine Anzahl von Lebensmitteln muß rationalisiert werden!“ Was man nicht hat, kann man schwerlich „rationalisieren“.

Selbst Präsident Allende konnte nichts versprechen als „härtere Arbeit, mehr Produktion, und Lernen, wie man die Schwierigkeiten meistern könnte“. Allende gab offen zu, daß Chile nicht auf Sowjethilfe rechnen könne. „Rußland muß in diesem Jahre selbst 16 oder 18 Millionen Tonnen Getreide importieren, weil

seine Ernte , außerordentlich niedrig war.“ Die chilenische Regierung plane „eine demokratische und rationelle Verteilung der wichtigsten Lebensmittel“, wobei weitere Rationalisierungen notwendig seien. Die Instrumente für diese wurden bereits geschaffen. Die „Verteilungsund Preisräte“ (JAP) und das „Nationalsekretariat für Verteilung“ stehen bereit, dirigiert von ausgesuchten Armeeoffizieren.

Das JAP-System ist widerspruchsvoll und unpopulär. Es wurde im April 1972 erfunden. Die Opposition nennt es eine illegale Institution zur politischen Erpressung der Bevölkerung. Die JAP-Räte funktionleren auf nationaler Distrikts- und kommunaler Ebene, wovon letzteres als das Wichtigste anzusehen ist. Auf lokalen Meetings wurden Gebietsund Nachbarschafts-JAP's ins Leben gerufen, die ihrerseits Exekutivorgane wählten. Nach Anerkennung durch das National-JAP bildet das

Gebiets-JAP Verteilungskommissionen, die jeweils aus einem Exekutivmitglied und zwei Bürgern der Nachbarschaft bestehen. Die Verteilungskommissionen haben die Aufgabe, Ladeninhaber zu registrieren, die bereit sind, mit dem JAP zusammenzuarbeiten. Nachbarschaften werden in „Versorgungseinhelten“ eingeteilt, ihre Bedürfnisse werden vorrationalisiert. Die Kommissionen sollen als „Clearinghäuser der Nachbarschaft“ funktionieren — vorläufig tun sie dies allerdings nur hinsichtlich der Vermittlung einschlägiger Informationen, von denen noch niemand satt wurde. Die JAP-Exekuti-ve bestimmt „Delegierte“ für jeden Block im Distrikt, deren Pflicht es ist, detaillierte Familienlisten zusammenzustellen und Lebensmittelkarten zu verteilen.

Man diskutiert lebhaft über die sogenannten „Konsumentenpakete“, die vom JAP administriert werden. Ziel dieser „Einkaufskörbe“ wäre es,

den Schwarzmarkt und die Hortung von Lebensmitteln zu verhindern und Preisspekulationen auf dem Lebensmittelsektor zu unterbinden. Auf dem geduldigen Papier ist das alles sehr schön organisiert und die Gebiets-JAP's haben gewissenhaft gearbeitet. Die Lieferung der „Konsumentenpakete“ könnte reibungslos durchgeführt werden, wenn die notwendigen Waren in erwünschter Menge vorhanden wären. Der Preis eines Pakets beträgt 215 Escudos und es enthält Salz, Mehl, Bohnen, Nudeln, Suppe und gelegentlich andere Hauptnahrungsmittel wie Fleisch oder Huhn gegen zusätzliche Zahlung, Fisch zweimal wöchentlich und Molkereiprodukte an jedem anderen Tag. Wohlverstanden: Im Prinzip, nicht aber in Wirklichkeit!

Präsident Allende beschloß im Jänner die Bildung des „National-

sekretariats für Verteilung“, mit dessen Leitung er den Fliegergeneral Alberto Bachelet beauftragt hat. Während die JAP-Organe sich mit dem Kleinhandel beschäftigen, überwacht das erwähnte Sekretariat den Großhandel. Alle Produkte der Staatsunternehmen und der Betriebe des „Sozialsektors“, die Hauptversorgungsartikel der Privatindustrie und gewisse Agrarerzeugnisse dürfen nur unter Aufsicht des Sekretariats ausgeliefert werden. Das „Nationalsekretariat für Verteilung“ hält ein wachsames Auge auf die privaten Großhändler, deren Waren nicht in die obigen Kategorien gehören, damit diese Händler die Öffentlichkeit nicht unkontrolliert und direkt, oder sogar manche Bevölkerungsgruppen bevorzugt, beliefern können.

Damit die Situation komplizierter wird, muß auch ein „Nationalrat für Verteilung und Marketing“ mit dem genannten Sekretariat kooperieren. Ratsmitglieder sind der Präsident des „Nationalsekretariats“,'der Wirtschaftsminister und sein Staatssekretär sowie der Industrie- und Handelsdirektor. Der „Nationalrat“ ist für die Festsetzung der Strafen für Wirtschaftsverbrechen, Schwarzmarkthandel und Spekulation zuständig.

Die Opposition beanstandet, daß durch Allendes neues System die Lebensmittelversorgung der Familien politisch beeinflußt werden kann. Die Beamten werden ohne öffentliche Kontrolle bestimmt. Das neue System hat sehr geringen Einfluß auf die. chilenische Agrarproduktion, was bedenklich ist, weil die potentielle Selbstversorgung nicht verwirklicht werden kann, um so weniger, als die eigenmächtigen, gewaltsamen Inbesitznahmen vieler Güter zu deren Leistungsunfähigkeit geführt haben.

Chiles Lebensmittelversorgung wird immer akuter — wie Allende zugeben mußte. Weitere Rationalisierungen in der nahen Zukunft lassen die Glaubwürdigkeit des „neuen chilenischen Modells für sozialistische Entwicklung“ dahinschwinden.

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