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„Nein: Du tauchst bei mir unter!“

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Die vielen auf den Straßen liegenden Glasscherben, in denen sich das Licht der Straßenlaternen widerspiegelte, gaben der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 im Volksmund die Bezeichnung „Kristallnacht“. In dieser Nacht brannten Synagogen, jüdische Wohnungen und Geschäfte, wurden unzählige Juden mißhandelt und getötet und 4600 Juden in das Konzentrationslager Dachau deportiert.

Diese Nacht bildete jedoch nur den Auftakt für das unbeschreibliche Elend der Juden, das von breiten Kreisen der Bevölkerung mit Beifall zur Kenntnis genommen wurde. Diejenigen, die mit der Behandlung der Juden nicht einverstanden waren, mußten dies für sich behalten. Für die, die es wagten, Juden zu helfen (es waren nicht viele, aber es gab sie), be-ganA ein Leben, das bis heute tiefe Spuren hinterlassen hat.

So ist es auch bei der ehemaligen Volkstheater-Schauspielerin Dorothea Neff, an die sich die meisten sicher noch erinnern, obwohl sie wegen ihrer Blindheit seit vielen Jahren nicht mehr auf der Bühne steht. Sie hat nur ganz wenigen Menschen erzählt, daß sie während des Krieges vier Jahre lang eine jüdische Frau versteckt hielt. Warum? Weil es sie noch heute, wenn sie darüber spricht, so stark berührt, als läge diese Zeit nicht mehrere Jahrzehnte zurück.

Es ist nicht ganz einfach, ihre Geschichte so wiederzugeben, wie Dorothea Neff selbst sie erzählt, weil man ihre Stimme und ihren Gesichtsausdruck nicht vermitteln kann, der alles das sagt, was sie mit Worten nicht auszudrücken vermag.

Dorothea Neff ist in Deutschland in einer Familie aufgewachsen, in der man kritisch dachte und kosmopolitisch eingestellt war. Von Anfang an,

„Von Anfang an hat sie Hitler gehaßt“

noch bevor sie als junges Mädchen die politische Tragweite des Nationalsozialismus ermessen konnte, hat sie Hitler gehaßt. Einer der Hauptgründe für diesen Haß war sein Antisemitismus.

Es war selbstverständlich, daß sie mit jüdischen Familien befreundet war. Zu diesen gehörten auch die Geschwister Wolff, die Dorothea Neff in Köln kennengelernt hatte, wo Lilli Wolff ein großes Atelier für Theaterkostüme führte.

Knapp vor Ausbruch des Krieges wurde Dorothea Neff nach Wien ans Volkstheater engagiert. Vorher war sie mit Lilli Wolff nach Mönichkir-chen auf Sommerfrische gefahren und hatte ihre Freundin als katholisch eingetragen. Damals war das gerade noch möglich.

Lilli konnte nicht mehr nach Deutschland zurück. Da sie in Wien bleiben wollte, mußte sie hier auch

ordnungsgemäß gemeldet werden. Dorothea Neff brachte sie deshalb bei der jüdischen Familie Blum in der Ferdinandstraße im zweiten Wiener Gemeindebezirk unter. Dort war Lilli Wolff das letzte Mal offiziell gemeldet. In der kleinen Wohnung der Familie Blum hausten acht Juden in drei kleinen Zimmern.

Lilli verbrachte nur die Nacht bei den Blums, tagsüber war sie bei Dorothea Neff in der Annagasse im ersten Bezirk. Das ging so bis zum Winter 1940/41. Um diese Zeit begannen die Abtransporte nach Polen. Es hieß, man dürfe maximal 20 Kilo Gepäck mitnehmen. Dorothea Neff besorgte eine Reiseapotheke, einen Petroleumkocher, Schaftstiefel, alles Dinge, von denen man damals naiverweise annahm, sie könnten den „Verschickten“ das Leben erleichtern.

Während die beiden Frauen das Gepäck abwogen, um die Gewichtsgrenze nicht zu überschreiten, kam der Moment, in dem Dorothea Neff, als sie ihrer Freundin Lilli in das graue, schmale Gesicht sah, plötzlich sagte: „Nein, räum' alles wieder weg. Du wirst nicht fahren. Du tauchst bei mir unter!“

Erst nach diesem Entschluß begann Dorothea Neff zu überlegen, wie dieses Unternehmen - mit nur einer Lebensmittelkarte - durchzuführen sei und welche Veränderungen es für ihr tägliches Leben nach sich ziehen würde. Sie stand als Schauspielerin in der Öffentlichkeit. Aber diese Tatsache brachte einen gewissen Vorteil.

Unerwartete Hilfe kam ausgerechnet von Baidur von Schirach. Er gab

eine Bestimmung heraus, wonach Schauspielern neben einem Wohnraum ein Arbeitsraum zugestanden wurde. Damit war für Dorothea Neff die Gefahr einer Zwangseinquartierung, die damals üblich war, abgewendet. Ein zweiter Vorteil ergab sich durch den Umstand, daß sie damals noch Deutsche war-sie hat 1945 die österreichische Staatsbürgerschaft erworben. So galt sie in den Augen der österreichischen Nazis als „gesinnungstreu“.

Zunächst aber mußte Lillis Verschwinden vertuscht werden; schließlich war sie ja zum Transport nach Polen registriert. Am Tag nach der Entscheidung ging Dorothea Neff zur Familie Blum, um sich scheinbar nach Lilli zu erkundigen und durch ihre Sorge über Lillis Abwesenheit jede Spur zu verwischen.

Die Blums kannten die Schauspielerin nicht (Juden durften ja nicht ins Theater und Dorothea Neff war erst

„Demonstrativ trug sie den Davidstern“

seit 1939 in Wien). Sie hatte sich ihnen als Frau Schmid (mit dem Namen ihres verstorbenen Mannes) vorgestellt Die Familie Blum vermutete, Lilli hätte Selbstmord begangen, sie sei die ganze Zeit über schon so depressiv gewesen. Drei Tage später wurde die Familie Blum deportiert.

Die Spannung und den Druck zu beschreiben, unter dem Dorothea Neff vier Jahre lang, vom Winter 1940/41 bis zur Befreiung Wiens im

April 1945, stand, ist mit Worten kaum möglich. Wenn jemand zu Besuch kam - als Schauspielerin konnte sie nicht so zurückgezogen leben, wie sie es im konkreten Fall gewollt hätte - mußte sich Lilli in einer „Pawlat-sche“ verstecken, von der niemand wußte. Bei jedem Läuten, ob an der Tür oder am Telefon, tauchte die Frage auf: „Was geschieht, wenn ...“

Im August 1944 entstand eine kritische Situation: Lilli mußte operiert werden. Dorothea Neff brachte sie mit einem eigenen alten Ausweis, der auf Antonie Schmid lautete, ins Spital. Diesen bürgerlichen Namen Dorothea Neffs kannte niemand.

Wieder half es ihr, daß sie eine bekannte Schauspielerin war. Ärzte und Krankenschwestern interessierten sich nur für sie und behandelten ohne viel zu fragen, die vermeintliche Antonie Schmid, die als ausgebombte Verwandte aus Köln ausgegeben wurtle. Die Operation verlief normal. Lilli lag in einem Zimmer mit einer Frau vom Land, die über die Juden schimpfte, während sie Lilli mit Kuchen und Speck fütterte.

Es kam der 9. April 1945 und damit die Befreiung für Lilli Wolff. Dorothea Neff drohte zunächst die Gefahr, als Noch-Deutsche mit 50 Kilo Gepäck „repatriiert“ zu werden. Nun konnte Lilli ihr helfen. Demonstrativ trug sie den Davidstern, um allen zu beweisen, daß Dorothea Neff keine Nationalsozialistin gewesen war. Unter den ersten Russen, die die Wohnung Dorothea Neffs betraten, war ein junger Jude. Um sich zu vergewissern, daß Lilli tatsächlich Jüdin war, sprach er sie Hebräisch an. Lilli antwortete Hebräisch. Daraufhin heftete er einen Anschlag zum Schutz der Bewohner an die Wohnungstür. Neben Lilli Wolff waren es dann noch zwei prominente Österreicher, die für Dorothea Neff bürgten: Erwin Ringel und Albert Paris von Gütersloh.

Lüh Wolff lebt heute in Dallas, Texas, und hat bis vor wenigen Jahren ein berühmt gewordenes „Designer-Atelier geführt. Aus Bewunderung für die wahrhaft christliche Nächstenliebe der Freundin ist Lilli Wolff Baptistin geworden.

Was Dorothea Neff rückblickend als positiv empfindet, wenn sie an diese weit entfernte, aber doch stets gegenwärtige Zeit zurückdenkt, ist Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, daß es ihr möglich war und gelungen ist, einem Menschen in dieser unmenschlichen Zeit zu helfen und das Leben zu retten.

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