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Sehend
Das Licht dieses Märznachmittags kann sie nicht blenden, sie ist blind. Dabei werde ich das Gefühl nicht los, daß sie mich gerade eben im Gespräch angesehen, gesehen hat. Es geht nicht nur mir so. Noch ein paarmal an diesem Nachmittag habe ich mich dabei ertappt, mich zu fragen, ob diese unbeschreiblichen Augen wirklich nichts sehen können.
Als sie zu sprechen beginnt, höre ich das mir vertraute Pathos einer anderen, vergangenen Theaterzeit, eine Melodie, die den Inhalt des gesprochenen Satzes mitmalt, plötzlich und ruckartig und deshalb doppelt hinreißend, unterbrochen von trok-kenster Pointierung. Sie erzählt aus ihrem Leben.
Sie hat das schon vor ein paar Wochen getan, auf der Bühne des Akademietheaters, als sie aus den Händen des Botschafters des Staates Israel Medaille und Ehrenurkunde des Yad Vashem, der Holocaust-Helden-und Märtyrer-Gedächtnisstätte in Jerusalem entgegennahm. Sie erzählt Episoden aus ihrem Leben, wie dieses aussah in den Jahren 1941 bis ■ 1945, als sie die Kölner Kostümbildnerin Lilli Wolff in ihrer Wohnung in der Wiener Annagasse vor den Nazis versteckte. Sie erzählt stockend anfangs, dann mit großer Kraft und beglückendem Humor. Es fällt ihr nicht leicht und sie meint auch, dies wäre das letzte Mal, daß sie über diesen ihren Lebensabschnitt sprechen möchte. Er hätte so lange geruht, sei aber so schmerzhaft überlebendig geworden in den letzten Wochen, andere Dinge seien wichtiger.
Sie täte es um der Jugend willen. Zu einer Handvoll Burgtheaterkolleginnen spricht sie noch einmal darüber, sie ist unserer Einladung gefolgt, wir dürfen Fragen stellen. Sie erkennt viele von uns an der Stimme. Und die Jungen, die sie noch nicht kennt, läßt sie sich vorstellen und horcht nach deren Stimmen.
Es sind'die Kleinigkeiten,' sägt 'sie. Aus den Kleinigkeiten hätte sich mit solcher Selbstverständlichkeit die große Tat der Nächstenliebe ergeben. Die in der kleinen, der täglichen Nächstenliebe in Übung blieben, für die sei die große nur eine logische Folgerung. Ganz zwangsläufig käme das. Es sei für sie ganz einfach unmöglich gewesen, im entscheidenden Augenblick einen anderen Gedanken zu denken als: „Du bleibst bei mir, ich lasse dich nicht ausliefern." Dieser Augenblick war da, als Lilli Wolff und Dorothea Neff auf dem Fußboden von Dorotheas Wohnzimmer in der Annagasse knieten und Habseligkeit nach Habseligkeit auf einer Küchenwaage abwogen. Bis zu 20 kg waren der vor dem „Abtransport ins Arbeitslager" stehenden Lilli Wolff gestattet. „Dieses demütige, blasse Gesicht von der Lilli", sagt Dorothea Neff. „Sogar Filzlausschmiere hatte ich schon für sie besorgt gehabt und gefütterte Stiefel fürs Lager."
„Sie sind jung", sagt sie uns, „Sie haben alles vor sich. Wissen Sie eigentlich, wie gut, wie unvorstellbar gut es Ihnen geht?" So manche von uns ihr Zuhörenden sind genau in dem Alter, in dem Dorothea war, als sie die Jüdin Lilli ihren Rucksack nicht packen ließ fürs Arbeitslager und sie für vier kaum vorstellbare Jahre ihr U-Boot werden ließ, fast im Herzen von Wien, in der Annagasse. Von der heute über achtzigjährig in den USA Lebenden sagt sie: „Die gute Lilli, sie sieht diese ganze Zeit heute ausschließlich nostalgisch." Und: „Sie war wundervoll als U-Boot. So still." Dann plötzlich: „Sie können sich nicht vorstellen, wie dämlich mir die Theaterei vorgekommen ist, wenn ich abends die Wohnung verließ, um auf der Bühne zu stehen. Einen Hund hab' ich auch noch gehabt, zu allem dazu. Sehr viel Glück habe ich gehabt während der ganzen Zeit und - Deutsche war ich halt auch, für die Wiener konnte ich schon aus diesem Grund gar nichts anderes sein als ein fester Nazi, das war auch so ein Schutz für uns. So", sagt sie zum Schluß, .jetzt reden wir von was anderem."
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