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Vernebelung durch blauen Dunst

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John Stuart Mill, der Klassiker des Liberalismus britischer Prägung, hat sich in seiner 1859 erschienenen Schrift „On liberty" in einer Weise über die Grenzen individueller Freiheit geäußert, die auch heute noch Maßstabcharakter besitzt. Nach Mill ist der einzige Rechtfertigungsgrund für Eingriffe in die Handlungsfreiheit eines einzelnen Mitgliedes der Gesellschaft der Selbstschutz der Gemeinschaft.

Das Individuum ist der Gemeinschaft nur für solche Handlungen verantwortlich, die die Interessen anderer berühren und • ihnen schaden, nicht aber für solche, die nur das eigene Wohlergehen betreffen, zu dem niemand gezwungen werden soll, auch wenn es objektiv feststeht.

Nach diesem klassischen Kriterium fallen aber auch Handlungen, die auf den ersten Blick der bloßen individuellen Disposition unterliegen, bei näherem Zusehen sehr wohl der Ingerenz der Gesellschaft anheim. Im Zeitalter von Aids hat diese Maxime von damals unvermutete Auswirkungen auf die Sexualmoral, aber auch auf andere Lebensbereiche.

So könnte man in bezug auf das Rauchen, dessen gesellschaftliche Zurückdrängung Gesundheitsminister Michael Au-ßerwinkler als Arzt und zuständiger Ressortchef dankenswerterweise thematisiert hat, zunächst der Meinung sein, daß es in erster Linie das eigene Wohl

betreffe und daher unter die Rubrik „Privatsache" falle.

Dem ist aber bei näherer Prüfung nicht so. Denn der Raucher, der sich zum Zwecke seines Tuns nicht in sein stilles Kämmerlein zurückzieht, sondern in der Öffentlichkeit auftritt und seine Umgebung verseucht, zwingt seine unbeteiligten Mitmenschen zum Passivrauchen und beschwört daher auch für sie, nicht nur für sich selbst, gesundheitliche Schäden herauf.

Daran sollte er, wenn es nach den Vorstellungen des Ministers geht, die einem weltweiten Trend entsprechen, in Zukunft gehindert werden. An Arbeitsstätten und in Restaurants sollte die schweigende Mehrheit der Nichtraucher vor den ständigen unerwünschten Attacken der Raucher geschützt werden, zu denen diese auch dann kein Recht hätten, wenn sie die Mehrheit wären, weil man sich nach Mill und Alexis de Tocqueville auch gegen die Tyrannei der Mehrheit wehren und ihr Einhalt gebieten muß.

Der große Philosoph Immanuel Kant hat einmal die Unredlichkeit als die Fähigkeit des Menschen, „sich selbst blauen Dunst vorzumachen", definiert. Sollte man nicht auch die Gedanken-und Rücksichtlosigkeit, nicht nur sich, sondern auch anderen einen solchen vorzumachen, als unzulässige Vernebelung moralisch disqualifizieren?

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