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Wo „der größte Ungar” letzte Ruhe gefunden hat

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Auch der ausländische Tourist erfährt es bald: Nagycenk ist ein Wallfahrtsort, allerdings der besonderen Art. Denn hier wird kein kirchlicher Heiliger verehrt, sondern ein Nationalheld: Istvän Szechenyi.

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Auch der ausländische Tourist erfährt es bald: Nagycenk ist ein Wallfahrtsort, allerdings der besonderen Art. Denn hier wird kein kirchlicher Heiliger verehrt, sondern ein Nationalheld: Istvän Szechenyi.

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Scharenweise pilgern Ungarn Jahr für Jahr aus aller Welt nach Nagycenk, um an der Grabkapelle der Familie Szechenyi am Ortsfriedhof des großen Ungarns Graf Istvän Szechenyi zu gedenken. In Nagycenk erinnert jede Sehenswürdigkeit, jedes Objekt an die Familie Szechenyi und an die ungarische Geschichte. Die neoromantische Kirche mit einer Innenausstattung von Miklös Ybl, die schmalspurige Szechenyi-Istvän-Mu-seumseisenbahn mit dem Lokomotivenfreilichtmuseum, die Maulbeerbaum-Alleen, die noch der Graf höchstpersönlich gepflanzt hatte. Und vor allem das Szechenyi-Schloß, heute phantastisch revitalisiert (ein Teil beherbergt ein Schloßhotel), und als Istvän-Szechenyi-Museum eine Gedenkstätte von europäischem Format.

Das Schloß wurde ursprünglich nach Plänen von Franz Anton Pil-gram erbaut. Die Bauzeit fiel etwa in die Jahre 1760 bis 1784. Ferenc Szechenyi zog 1783 in das Schloß ein und legte hier seine berühmte Sammlung an, von der es im Jahre 1796 hieß: „...bemerkenswert sind I. die ausgezeichnete Bibliothek des Herrn, II. seine Landkartensammlung, die 6.000 Stück umfaßt, III. eine Münzsammlung usw.” Diese Sammlungen vermachte Graf Ferenc Szechenyi 1802 der Nation und gründete damit das Ungarische Nationalmuseum in Pest. Nach seinem Tode (1820) erbte Graf Istvän Szechenyi den Herrensitz. Er ließ das Schloß umbauen und - auch nach heutigen Maßstäben -modern ausstatten. Hier in Nagycenk begann sein Nachdenkwerk über die ungarische Nation, die er behutsam in ein modernes Europa führen wollte. Er versuchte seine Ideen an die ungarischen Intellektuellen weiterzugeben, dies mit Hilfe seiner Dichterfreunde.

Istvän Szechenyi, Husarenrittmeister im kaiserlichen Dienst, kannte den Wiener Hof und hatte durch Reisen in ganz Europa, insbesondere in England, wo ihn die Sozial-Ideen eines Robert Owen begeisterten, seinen Horizont erweitert. Dank des großen Vermögens seiner Familien, hätte er ein sorgenloses Leben in der dem Hochadel gemäßen Form genießen können. Sein wacher Geist und die überdurchschnittliche Intelligenz ließen ihn jedoch einen anderen Weg einschlagen: durch seine Kontakte und die Bekanntschaft mit ungarischen Romantikern aus allen Volksschichten wurde er mit den Problemen seines Volkes konfrontiert.

In Anlehnung an eine Nationalliteratur, basierend auf den Quellen volkstümlicher Dichtung, wünschte er sich das Erstehen eines ungarischen Nationalbewußtseins, das von allen Schichten des Volkes, Großgrundbesitz und Hochadel eingeschlossen, getragen wurde. Istvän Szechenyi verschrieb sich dieser Idee und begann in

Wort und Schrift die öffentliche Meinung für den nationalen Gedanken zu mobilisieren. Das war für Szechenyi nicht einfach, beherrschte er doch als Angehöriger des Hochadels nur die französische und deutsche Sprache.

Mutig ergriff er 1825 im - erstmals nach Jahren des Verbots einberufenen - Landtag das Wort und trug in gebrochenem Ungarisch seine Anliegen vor, die allenthalben für Aufregung sorgten: Denn er verlangte in seiner sensationellen Rede nicht weniger als die Beschneidung der Rechte des Adels, die Abschaffung der Leibeigenschaft und eine Besserung der sozialen Verhältnisse nach englischen Vorbild.

Gegenspieler Lajos Kossuth

In seinem im Jahre 1830 erschienenen Werk „Kredit” hielt Graf Szechenyi seinem Volk einen Spiegel vor, indem er mit beißender Ironie die rückständige Gesellschaftsordnung, das Festhalten an Privilegien sowie die Mißstände und Unterdrückung auf dem Lande anprangerte. Langsam gelang es ihm, breite Schichten zu aktivieren, wobei sich in seinen Standeskreisen zwei Parteien formierten: die Reformer und die Konservativen.

Graf Szechenyi gab ein Jahreseinkommen für die Gründung der ungarischen Akademie (1830), er initiierte den Bau der Kettenbrücke, die Ofen mit Pest verbinden sollte. Er ließ Donau und Theiß regulieren und war bei der Einrichtung einer geregelten Donauschiffahrt initiativ.

Szechenyi war aber auch ein Mann, der sich anzupassen wußte. Er wollte sich nicht mit dem Wiener Hof anlegen, vielmehr durch bessere Lebensbedingungen sein Volk derart stärken, daß er es als wirtschaftlich gleichgestellten Partner an Österreich und Europa heranführen könnte.

Doch in Ungarn begann es in den vierziger Jahren zu gären. Szechenyi erwuchs in Lajos Kossuth ein radikaler Gegenspieler, der nicht mehr warten wollte. Der Revolutionär nannte den Grafen wohl den „größten Ungarn aller Zeiten”, wollte aber das Reifen der Szechenyischen Reformen nicht abwarten. Als es 1848 zu den ersten blutigen Zusammenstößen kam, begann sich der Graf in Selbstvorwürfen zu zerfleischen: er gab sich die Schuld, durch sein Werk zur Revolution beigetragen zu haben. Szechenyi konnte sich aus seinem Gewissenskonflikt nicht mehr befreien und starb im Jahre 1860 in geistiger Umnachtung in Wien-Döbling. Es war ihm nicht vergönnt, den von ihm zeitlebens angestrebten Ausgleich mit Österreich zu erleben.

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