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Der „Washington Ungarns

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Vor hundert Jahren, am 8. April 1860, starb in Wien, in einem Döblinger Privatsanatorium, der ungarische Reformpolitiker und die große tragische Gestalt der donauländischen Romantik, Graf Stephan Szechenyi.

1791 im Stadtpalais seiner Eltern in der Wiener Herrengasse geboren, nahm Szechenyi, als junger, in der Völkerschlacht zu Leipzig sich auszeichnender Husarenkapitän, am gesellschaftlichen Leben der Kaiserstadt zur Zeit des Wiener Kongresses regen Anteil. Entscheidend für sein späteres Leben waren die geistigen Anregungen, die er im Elternhaus erhielt. Seinen Vater, den Grafen Franz Szechenyi, verbanden mit dem heiligen Clemens Maria Hofbauer sowie auch mit dem „Fürsten der Romantik“, Friedrich Schlegel, enge Fäden. Die Ideen dieser Männer waren es, die der Reformkonzeption Szechenyis zugrunde lagen. Szechenyis Programm im Sinne eines christlichen Humanismus, einer moralischen Erneuerung und freien sozialen und kulturellen Entfaltung der Völker war vielleicht der letzte konstruktive Plan, der die Donaumonarchie mit' neuem Geist erfüllt und dadurch einer besseren Zukunft entgegengeführt hätte.

Dieser Plan, durch welchen es Szechenyi anfangs gelang, seine in geistiger und materieller Rückständigkeit lebende Nation aus dem Dämmerschlaf wachzurütteln, scheiterte schließlich am chronischen Mißtrauen gewisser Wiener Regierungskreise und vor allem am heranbrausenden Nationalliberalismus, dessen Führer in Ungarn der r große Widersacher Szechenyis, Ludwig Kossuth, war. Szechenyis persönliche Niederlage ist symbolhaft auch für das Untergehen des alten Reiches und für das Verblassen mancher Ideen, die das Reich vertrat.

Man wäre geneigt, diesen genialen Abkömmling eines alten ungarischen 'Adelsgeschlechtes für einen,.Phantasten zu halten.uder dasWort. derZeit' offenbar hfcht verstand8 und-ftbefiderr die stets fortschreitende Geschichte mit der Grausamkeit der Elemente hinwegging . . . Szechenyi beschloß sein Leben in Döbling, wo er seit seinem in den Sturmtagen der Revolution erfolgten seelischen Zusammenbruch zwölf Jahre in der schützenden Abgeschiedenheit eines Nervensanatoriums verbrachte. Man könnte deshalb auf den Schluß kommen, Szechenyis Bedeutung erschöpfe sich heute in einigen verstaubten historischen Erinnerungen. Dem ist aber nicht so.

Es ist freilich unleugbar, daß “der genannte Ludwig Kossuth gleichsam auf Anhieb die Herzen seiner Konpatrioten und somit den Kampf gegen seinen Rivalen Szechenyi gewann: nicht nur kraft seiner faszinierenden Persönlichkeit, seines rednerischen Talents und einer durch ihn vollendet geübten Technik der Massenbeherrschung, sondern vor allem durch die zündenden Parolen, in die er sein politisches Glaubensbekenntnis kleidete. Er sprach nicht zum Individuum, zum „Menschenverstand“, wie Szechenyi, sondern appellierte an das Kollektiv, an die Massen. Er verlangte von ihnen nichts, weder Denken noch mühsames Handeln, sondern nur eine stets lodernde Begeisterung. Und er versprach dafür alles. Ein neues Zeitalter mit neuem politischem Ziel war mit ihm auch in Ungarn ausgebrochen: es ist, zumindest in seinen letzten Folgeerscheinungen, noch heute nicht zu Ende.

Der politische Romantiker Szechenyi hingegen hielt jede Massenbearbeitung und jedes „Allheilmittel“ für Betrug oder Verblendung. Er bot dem Menschen, dem christlichen „Landsmann“, die gute Möglichkeit einer schrittweisen Besserung an. Aber der Weg dazu mußte mit stillen, alltäglichen, durchaus unpathetischen Siegen über die eigene Person, mit Selbstverleugnung, illusionsfreiem Realismus und mühsamer Kleinarbeit gepflastert werden. Das war schon schlimm genug. Vollends verlor aber Szechenyi die Gunst des Volkes, als er die kurz zuvor erwachten und immer stärker werdenden nationalen Leidenschaften schonungslos be-kämpfte.

Ein gutes Beispiel hierfür ist seine große Rede vor der Ungarischen Akademie im Jahre 1842: darin warnte er vor der Anwendung von zweierlei Maß gegenüber der eigenen und fremden

Nation. Gerade der selbstbewußte Patriot müßte, nach Szechenyi, die nationale Eigenständigkeit der anderen achten. Eine „Madjarisierung“ der auf dem Gebiet des damaligen Ungarn wohnenden übrigen Volksgruppen hielt er für Selbstbetrug, daher für einen doppelt gefährlichen Gewaltakt. Es war ihm klar, daß er mit der Verbreitung solcher Gedanken auf die letzten Reste seiner ehemaligen Führerrolle verzichtete. Sein Ruhm verbreitete sich gerade zu dieser Zeit in den Kreisen der ungarländischen Deutschen und Slawen und auch im Ausland. Engländer und Deutsche sprachen von ihm als von dem „Washington Ungarns“.

Szechenyi schuf viel (auch im rein materiellen Sinn) Bleibendes: die Pest-Ofener Kettenbrücke, Wasserwege, eine Akademie der Wissenschaften. Mit seinem im Jahre 1830 veröffentlichten Buch „Hitel“ („Kredit“) gab er den ungarischen Refpjrnhe%trebürigen 6i$t überhaupt Richtung undlhM'diese rfcrTStlP nannte ihn selbst Kossuth einmal den „größten Ungarn“.

Bezeichnenderweise blieb diese Kossuthsche Phrase an ihm hängen. Die späteren liberalen Generationen vermochten in ihm nur den „größten Ungarn“ zu sehen, sie erfreuten sich einiger seiner Gedanken, die zufällig auch die ihrigen waren, bis es dann so weit kam, daß im heutigen Ungarn selbst der Name Szechenyi kaum noch öffentlich genannt wird. Um so sicherer ist es, daß ein friedliches Zusammenleben der Völker in diesem Teil Europas nur möglich sein wird, wenn man die durch Szechenyi herausgearbeiteten und verbreiteten Grundsätze mit berücksichtigt. Es wäre daher keineswegs unzeitgemäß, etwa den jungen Historikern in Österreich die Beschäftigung mit dieser Zentralgestalt donauländischer Geschichte des 19. Jahrhunderts zu empfehlen.

Szechenyi schrieb, neben einer Anzahl von Büchern, in welchen er sich mit politischen und wirtschaftlichen Themen beschäftigte, von seinem 23. Lebensjahr an auch Tagebücher, und zwar fast durchweg in wienerisch gefärbter deutscher Sprache, der Sprache seiner Jugend-jjhrAji In jSejren|Bücbrn ist Sfcechenyi der Ver-TüntfeY'W IhrJereti 'ReforH - ferner der vielgereiste Praktiker, dessen scharfem Blick nichts Lehrreiches entgeht. Der Leser der Tagebücher lernt auch den romantischen Schwärmer und tragischen Helden Szechenyi kennen. Die hier folgenden wenigen Auszüge aus den Tagebüchern wurden der großen kritischen Ausgabe der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (1925 bis 1934) entnommen.

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