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Aus der gemeinsamen Ahnengalerie

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DER GRÖSSTE UNGAR. Graf Stephan Szechenyl. Von Denis S 11 a g i. Verlag Herold, Wien-München, 1967. IM Seiten mit 20 Bildtafeln and vier Abbildungen im Text.

S 138.-.

Ein Bild aus der gemeinsamen, österreichisch-ungarischen, oder, wenn man will, donauländischen, aber auch gesamteuropäischen Ahnengalerie: der ungarische Reformpolitiker des Vormärz, Graf Stephan Szechenyi (1791 bis 1860). Verlag und Autor haben mit dem vorliegenden Buch über Leben und Wirken dieses Staatsmannes eine außerhalb Ungarns wohl kaum näher bekannte Gestalt der neuzeitlichen ungarischen Geschichte aus der Vergessenheit geholt und dem deutschsprachigen Leser vorgestellt. Das ist nicht nur im Hinblick auf die so notwendige Völkerverständigung verdienstvoll. Kaum ein anderes Beispiel hätte den Schrumpfungsprozeß dm historischen Bewußtsein der heutigen Menschen — nicht nur, aber vielleicht besonders der Österreicher — so klar veranschaulicht wie dieses. Stephan Szechenyi nämlich war ein Wiener. Er sprach die Sprache des Wiener Hochadels, in dieser Sprache verfaßte er 34 Jahre lang seine großartigen Tagebücher. In Wien, in der Herrengasse 5, im einstigen Palais Szechenyi, wurde er geboren. Nach Wien kehrte er immer wieder zurück, aus den napoleonischen Kriegen, von seinen Auslandsreisen und auch aus Unigarn, zuletzt als ein vom Wahnsinn Gezeichneter, im September 1848, am Vorabend der Revolution. Die letzten zwölf Jahre seines Lebens verbrachte er dann im Nervensanato-riium des Dr. Görigen in Oberdöbling, in jenem schönen, klassizistischen Bau, der, oben auf dem Hügel, von höhen Bäumen und Villen verdeckt, noch dort steht, wo heute die Krot-tenbachsttraße in die Bifflrothstraße einmündet. Aber die Gedenktafel hier und in der Herrengasse beachtet heute wohl niemand. Stephan Szechenyi ist in Wien, in Österreich, ebenso vergessen wie andere seiner berühmten Zeitgenossen, Vongänger und Nachfolger, aus den Ländern der einstigen Monarchie. Dieses Buch könnte dazu beitragen, daß die Besinnung auf die Vergangenheit, die man bei feierlichen Anlässen in öffentlichen Reden immer wieder ankündigt, keine leere Phrase bleibt.

Szechenyis Werk überdies könnte auf junge Menschen, etwa auf angehende Lehrer oder gar auf Politiker, auch heute noch seine einmal schon erprobte gute Wirkung ausüben. Die vor allem von Jeremy Bentham und von Benjamin Franklin befruchteten liberalen Reformideen Szechenyis, die Anregungen, die er von Clemens Maria Hofbauer, der ein Freund seines Vaters war, empfangen mochte, sind in ihren Grundzügen nicht veraltet. In seinem Buch vom „Kreditwesen“ (1830) sagt er ungefähr dasselbe, nur schöner, ergreifender, was in der heutigen dürren Politikersprache „Vorrang für Bildung“, „volkswirtschaftliches Denken“, ..moralische Aufrüstung“, Verkehrsplanung,

Energdeplan und Infrastruktur heißt. Im damaligen, hoffnungslos rückständigen Umgarn wirkte gerade dieses Buch Szechenyis elektrisierend. Es schuf gleichsam über Nacht eine neue Lage. Es leitete das unvergleichliche Reformzeitalter Ungarns ein. Szechenyi war der Anführer, der SdiTitteniacher dieses Refoitmzeit-

alters. Sein Gegner war Ludwig Kossuth, der ihn einmal mit einer rhetorischen Verbeugung „den größten Ungarn“ nannte.

Szechenyi aber war, wie schon gesagt, auch ein Mitglied des Wiener Establishment, ein häufiger Gesprächspartner Metternichs, der allerdings in seiner Verblendung ihn nicht ganz ernst nahm, ein europäischer Geist, enorm belesen, tolerant, unparteiisch. Kein Wunder, daß er mit den ungarischen Nationalisten der Richtung Kossuths bald in Konflikt geriet. In Wien mochte man ihn schon seit langem überhaupt nicht. Die Ereignisse überrollten ihn, sein Reformwerk blieb unvollendet, er selbst wurde und blieb letztlich ein Einsamer. Man soll nicht zu oft von historischen Wendepunkten sprechen. Hier aber wurde eine Gelegenheit versäumt.

Das BiW, das der Autor mit großer Natürlichkeit . und zugleich mit Akribie zeichnet, ist kein Heldenporträt und kann auch den Ideenreichtum dieses großen Erziehers und Praktikers nicht wiedergeben. Dafür entsteht vor dem Leser das Bild eines Menschen, der unablässig mit sich selbst kämpfte, dessen Streben nach Vollkommenheit und „innerlicher Stille“ ständig mit Selbstfoezichitigungen aller Art einherging und der im Lauf der Zeit von seinem alten Milieu wie von den neuen ungarischen Generationen immer weniger verstanden wurde. Die reichlich vorhandenen romanhaften Züge werden diesem Leben die Anteilnahme des Lesers sichern. Eine große, glanzvolle Zeit voll mit Abenteuern und Intrigen bietet dazu den passenden Hintergrund.

Bildmaterial und Titelblatt erhöhen die Wirkung des Bandes und machen ihn für Geschenkzwecke hervorragend geeignet.

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