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Ein Geist geht um

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Man kennt das Bestreben der sowjetischen Historiker und Geschichtsphilosophen, das Antlitz der Weltgeschichte umzuprägen. Die heutigen sowjetischen Geschichtsschreiber begnügen sich nämlich nicht mehr, wie noch vor einiger Zeit, damit, die Errungenschaften des Kommunismus etwa auf den Sieg der Oktoberrevolution im Jahre 1917 oder die Bauernaufstände von 1905 oder das Auftreten von Marx und Engels um die Mitte des vorigen Jahrhunderts zurückzuführen, sondern versuchen, sie aus den Sklavenauf-ständen aller Zeiten und bei allen Völkern abzuleiten. Auf diese Weise werden zunächst die Vorläufer der jetzigen ostslawischen Nationen in der gegenwärtigen Sowjetunion (Assyrer, Chaldäer im Kaukasusvorland, Mongolen in Asien, Chazaren an der Wolga, Finnen an der Moskva), aber dann auch Skythen, Anten und Byzantiner in die Geschichte des Sowjetvolkes, die also nicht mehr nur eine rußländische ist, einbezogen. Deren Sinn besteht nach dieser Auffassung seit jeher in der Abwehr des Feudalismus und in der kategorischen Ablehnung jeglicher Art von Sklavenstaat (!). Besondere Historikerkongresse beschäftigen sich heute mit der Frage, wann die einzelnen Epochen der Sowjetgeschichte beginnen, wobei das Ziel erkennbar wird, jede dieser Epochen um möglichst viele Generationen vorzuverlegen. Es soll unter allen Umständen der Eindruck erweckt werden, daß es neben diesen von der Sowjetgeschichte groß herausgestellten Ereignissen und Errungenschaften in weltgeschichtlichem Zusammenhang nur noch solche zweitrangiger Bedeutung gibt. *

Die angedeuteten wissenschaftlichen Tendenzen werden gegenwärtig nicht nur von russischen Fachgelehrten verfolgt und emsig gefördert, sondern haben auch bereits in Ländern Schule gemacht, die — ohne daß sie besonders enge Beziehungen zur russischen Geschichte besitzen — heute unter dem politischen und geistigen Einfluß der Sowjetunion stehen. Es zeigt sich, wie stark die werbende Kraft falsch verallgemeinernder, aber einfacher, ja primitiver Geschichtsdeutungen sein kann und wie diese oft gerade dort die schlimmste geistige Verwirrung anzurichten in der Lage sind, wo man es am wenigsten vermuten würde.

Ein dafür in höchstem Maße anschauliches Beispiel bietet das heutige Ungarn. Noch ist die Erinnerung in der westlichen Welt an den todesmutigen Aufstand seiner Jugend vom

Herbst 1956 lebendig: im Zeichen Kossuths, des madjarischen Revolutionärs von 1848, sammelte sie sich auf den Straßen von Budapest und warf sich, Kossuth-Lieder auf den Lippen, den russischen Panzern entgegen. Der Name Kossuth machte wieder einmal die Runde um die Welt, die voll ehrlicher und berechtigter Ergriffenheit den verzweifelten Hilferufen des geheimen „Kossuth-Senders“ der Aufständischen lauschte. Wer aber im Westen war sich damals dessen bewußt, daß dieser legendären Gestalt nicht nur die Rolle eines unsichtbaren Anführers der Aufständischen — in Ermangelung, leider, eines wirklichen! — zukam, sondern daß Kossuth gleichzeitig als geschichtliches Vorbild des ungarischen Kommunismus von der offiziellen Parteileitung propagiert und allgemein verehrt wurde? Nie zuvor hatte der Kossuth-Kult Höhepunkte wie jetzt erreicht. Nach Kossuth werden heute in Ungarn alle möglichen Dinge benannt, die beliebtesten Zigaretten genau so wie der bedeutendste Literaturpreis und die ungarische Militärakademie. Kurz, die gelehrigen ungarischen Schüler der Sowjetideologen und -geschichtsphilosophen haben Kossuth schon längst zum wichtigsten madjarischen Vorläufer des Weltkommunismus erklärt, ja sie haben es zustande gebracht, die Ursprünge des madjarischen Nationalkommunismus — genau nach dem sowjetischen Rezept — bis in alle Bauernaufstände und Kuruzzenkriege, überhaupt in alle Widerstandsbewegungen des Landes hinein aufzuspüren. Sie haben die geistige Ahnenreihe des ideologischen Revoluzzertums von Mätyäs Räkosi, dem Vorgänger des jetzigen Machthabers Jänos Kädär, über Bela Kün, Kossuth, Täncsics, Räkoczi, Hunyadi bis zum Staatengründer Stephan dem Großen, dem jetzt nachgesagt wird, er habe seine Erfolge durch die Beachtung klassengesellschaftlicher Grundsätze errungen (!), lückenlos geschlossen.

Wie gefährlich solche Geschichtsklitterungen sind, vermag man wieder am Beispiel der ungarischen Freiheitskämpfer von 1956 zu ersehen. Denn ihr Idol, Kossuth, außer dem sie praktisch kein anderes kannten und an dem sich infolgedessen paradoxerweise selbst ihre Begeisterung im Kampf gegen den Kommunismus entzünden mußte, ist, sachlich und ge-schichtskritisch betrachtet, eine der umstrittensten Gestalten der ungarischen Vergangenheit. Durch seinen Radikalismus hat Kossuth dem Hg3ri?cheB„VoJIw4ftidem diweh zcheayj: eingeleiteten ungarischen Refojrmzeitalter [unendlichen Schaden zugefügt: Er hat durch die von ihm erzwungene Lossagung Ungarns von Oesterreich im Jahre 1848 und durch die Entfesselung des Revolutionskrieges die ungarische Katastrophe von 1849 heraufbeschworen und die organische Entwicklung des ungarischen Staatswesens nach westlichen Vorbildern um volle 20 Jahre (bis zum „Ausgleich“ von 1867) verzögert. Er hat darüber hinaus in dieses sich langsam konsolidierende Staatswesen von seinem englischen, amerikanischen und italienischen Exil her das geistige Gift der nationalen Unduldsamkeit geträufelt und ist dadurch auch an der ungarischen Katastrophe von 1918, dem Zerfall des Reiches durch Lossagung der enttäuschten nationalen Minderheiten, schuldig geworden. Ja, sein Geist wird, solange er in Ungarn politische Gültigkeit behält, jede ehrliche Verständigung zwischen dem ungarischen Volke und seinen Nachbar- und Mitvölkern, jede echte Integration dieser Nation in einen Verband gleichberechtigter Partner verhindern.

Dabei besitzt Ungarn eine reiche geistige Ueberlieferung, die es sehr wohl dazu befähigt, Anschluß an die echten Werte abendländischer Kultur und christlicher Lebensauffassung zu finden. Dichter wie Arany, Jökai, Vörösmarty, Geschichtsschreiber und Kulturpolitiker wie Eötvös, Kemeny, Szekfü oder Babits, Staatsmänner wie Batthyäny, Deäk und Szechenyi, der große Gegenspieler Kossuths, den Kossuths Radikalismus ins Irrenhaus gebracht hat — um allein beim 19. Jahrhundert zu bleiben —, sind samt und sonders gleichzeitig als Europäer und Madjaren hohen Ranges zu bezeichnen. Sie waren allerdings nicht einseitig genug, um vor dem Urteil des heute allein entscheidenden, ferngelenkten Parteiareopags def Nation bestehen zu können. Den Namen Szechenyi beispielsweise im Munde zu führen, ist heute in Ungarn verpönt. Wie schrieb doch schon der weise Baron Eötvös wenige Jahre nach seiner bitteren Erfahrung mit Kossuths Regierungsmethoden: „Nicht der Sieg kommunistischer Grundsätze, sondern nur das ist unmöglich, daß diese Grundsätze je anders als durch eine ganz despotische Gewalt ins Leben treten. Der Sieg des Kommunismus muß daher immer zugleich jener der Despotie sein.“ (In seinem 18 54 in Leipzig erschienenen Werk: „Der Einfluß der herrschenden Ideen des 19. Jahrhunderts auf den Staat.“)

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