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Hammersdilag in der Ewigkeit

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An einem jener Frühlingstage, die im Norden so wohltuend milde sind, wollte Fridtjof Nansen von seinem Haus^ in „Polhögda“ bei Oslo aus noch einmal über den Garten hin nach dem -Fjord ausblicken und verlangte nach der Veranda. Seit März des Jahres 1930 mußte er bereits das Bett hüten, und am 13. Mai hörte ihn auf einmal seine Schwiegertochter draußen % sagen: „Wie gut, daß wir in unserem Garten diese Linden gepflanzt haben ... Ihr Grün ist so frisch, daß sie den Frühling zu verlängern scheinen.“ Er neigte sein Haupt, und als sie zu ihm hintritt, richtete er es wieder auf. Noch einmal öffnete er die Augen, küßte sie zart auf die Stirne und seufzte: „O ja!“ Es war sein letztes Ja. Das Ja eines großen Optimisten, der die härtesten und bittersten Realitäten des Lebens kennenlernte wie kaum einer vor ihm. Ein Leben der Hingabe in Taten und an Menschen fand sein Ende.

Nansen war nicht nur Polarforscher und Pionier der Wissenschaften: Als solcher hat er sich in der Welt einen Namen gemacht. Auf dem Gute Store Fröen in Vestre Aker, unweit von Oslo, wurde er am 10. Oktober 1861 geboren. Sein Vater war ein hochbegabter Jurist — der älteste bekannte Vorfahre hatte als Bürgermeister von Kopenhagen und als Eskimofahrer im 16. Jahrhundert bahnbrechende Leistungen vollbracht. Die Mutter stammte aus dem Hause Wedel-Jarlsberg, dem ersten Geschlecht im Lande, das aus Westfalen eingewandert war. Bei einem Blick über das Leben Nansens fällt einem unbedingt auf, daß er von einer Tat immer zu einer neuen, größeren angespornt, ja fortgerissen wurde. Man kann auch sagen, daß er zu seinen großen künftigen Taten vorher an kleineren geschult worden war. So war es mit seiner Polfahrt, vor der er Grönland durchquerte, und vor seiner Durchquerung finden wir ihn auf der noch einfacheren Eismeerfahrt auf dem „Viking“. Alle dabei gesammelten Erfahrungen waren mit die Ursache, für das gHte...Geiingenjse.jner ffpjßj&.U^rne^igigejtf.

“So war es aber auch auf dem Gebiete der politischen Tätigkeit. Er wurde im Laufe der Jahre geradezu zum Meister der Großorganisation und zum unüberhörbaren Mahner des europäischen Gewissens und der Gerechtigkeit. Man kann seine öffentliche Tätigkeit unter verschiedenen Aspekten betrachten. Der Weltkrieg hatte ihn jedenfalls in den Tiefen seines Herzens aufgewühlt und ließ ihn zu einem der feurigsten Befürworter des Völkerbundes werden. Als Vertreter einer kleinen Nation wurde er zugleich Vertreter aller kleinen Nationen und Minderheiten. Gleich nach seinem Beitritt wurde er mit der Riesenarbeit der Heimbeförderung der Kriegsgefangenen betraut. Es gab Seiten des Krieges, von denen er mehr zu sehen bekam als irgendein anderer. Mehr als sechs Jahre hindurch bestand seine Arbeit dann, für den Völkerbund die unheimliche Nachlese des Krieges zu untersuchen und wenn möglich zu lindern. Heute noch leben Österreicher, die ihm ihre Heimkehr verdanken.

Ihrri ist die Übereinkunft zur Regelung der Zwangsarbeit der Eingewanderten zu danken, des letzten Restes der Sklaverei — so glaubte man damals. Er nahm sich wärmstens der eineinhalb Millionen oft undankbaren russischen Flüchtlinge an, errang für sie den „Nansen-Paß“, der es ihnen ermöglichte, sich freier zu bewegen. Noch war Nansen damit nicht fertig, als seiner eine neue und noch unmöglicher scheinende Arbeit harrte: es war die Linderung der russischen Hungersnot in den Gebieten der ehemaligen Kornkammer Europas im Winter der Jahre 1921/22.

„Es geschah noch Schlimmeres“, klagte er bitter. „In einigen überseeischen Ländern herrschte damals ein solcher Überfluß an Mais, daß die Landwirte nicht wußten, wie sie ihn vor der neuen Ernte loswerden sollten. Und so verbrauchte man ihn als Feuerung für Lokomo-* tiven. Zur selben Zeit aber lagen viele europäische Schiffe unbeschäftigt in den Häfen, weil sie keine Ladung fanden. Außerdem gab es Tausende, nein, Millionen Arbeitslose ...“ Trotz seines beispiellosen Eifers und seines ganzen persönlichen Einsatzes faßte der Völkerbund den Beschluß, die Rußlandhilfe den Privaten zu überlassen. Trotzdem handelte Nansen: noch im September rollte der erste Lebensmittelzug über die Grenze, und im September 1922 war das Ärgste überstanden.

Nansen sollte fortan nicht mehr zur Ruhe kommen. Er trug Sorge für mehr als eine Million griechischer Flüchtlinge, und auf seine Veranlassung und unter seiner Aufsicht vollzog sich der Austausch der griechisch-türkischen Bevölkerungen. Zur gleichen Zeit, da er den Griechen hilft, protestieren die Bulgaren. Er veranlaßt also auch die Rückbeförderung der bulgarischen Deportierten nach Thrakien, die aus militärischen Gründen ins Innere Griechenlands übergeführt worden waren. Im Dezember 1922 wurde er bei seiner Heimkehr nach Oslo vom Nobelkomitee mit dem Friedenspreis überrascht. Die Summe stellte er sofort für russische Mustergüter zur Verfügung. Der dänische Verleger Erichsen überreicht ihm den gleichen Betraf noch einmal, und wieder stellt ihn Nansen den Darbenden zur Verfügung.

Im Herbst des nächsten Jahres übernahm er die schwerste Aufgabe seines Lebens: es ging um die Befreiung des armenischen Volkes und darum, ihnen die versprochene Hilfe für den Wiederaufbau zu verschaffen. Wie sehr er sich auch bemüht, wie er die — von ihm so genannte und erlebte — „schwere Ehren- und Mitleidsschuld, die auf der ganzen Menschheit lastet“, abtragen könnte, gibt er sich schließlich geschlagen und läßt blutenden Herzens den Akt fallen. Freilich blieb es nicht der einzige im Laufe seiner unablässigen Bemühungen.

Seine Reden im Völkerbund enthalten ein ganzes Programm für die UNO und die Bestrebungen der UNESCO und für die Erziehung der heutigen Jugend im Geiste der Völkerversöhnung. Bei seinem Suchen nach der tiefsten Ursache dieser Weltnot — immer wieder genährt aus Gier, Racheinstinkten, Machtgelüsten, Angst, Mißtrauen und anderen armseligen menschlichen Schwächen — entdeckt er eine alte Weisheit aus der christlichen Kultur Europas: „Die Nächstenliebe als leitende Kraft in der Welt ist verschwunden. Die Welt ist erfüllt von Haß, Neid, Mißtrauen ... Ich sehe keine andere Regelung für die Menschheit als die Wiedergeburt der Nächstenliebe.“ Gerade aus dem Munde eines Biologen darwinscher Prägung, der Schule widerchristlicher Heilslehren vom Kampf aller gegen alle, wurden seine Zuhörer förmlich schockiert. Er spürte diese Kluft: das höre sich kindlich an, beinahe sentimental; an „schönen Worten“ sei kein Mangel, wir brauchten Realpolitik!

„Ja, Realpolitik!“ ruft er allen diesen Zweiflern und Zauderern zu. „Ich bin auch Realpolitiker — mit meinem ganzen Wesen. Ich interessiere mich lebendig und ausschließlich für die Wirklichkeit. Keine Realpolitik in einer zivilisierten Gesellschaft ist denkbar, sie ruhe denn auf dem Grunde der Nächstenliebe, Gegenseitigkeit, Hilfsbereitschaft, Zutrauen. Das ist der Fels, auf dem alles menschliche Zusammenleben aufbauen muß, das materielle sowohl wie Kunst und Wissenschaft.“

Unübertrefflich charakterisierte ihn der katholische Zeitgenosse und Kulturkritiker Theodor Haecker in seinen „Satiren und Polemiken“ (Innsbruck 1922, S. 220): „Dieser Mann und Held, dessen Leben so rein strahlt wie das Nordlicht, der schon des Knaben Herz höher schlagen lassen konnte, weil er aller Abenteuerlust, allem Wagemut der Jugend genügte, ohne zu stehlen, ohne zu morden, ohne zu rauben, ohne zu plündern, ohne zu brennen, ohne zu foltern, ohne zu vergewaltigen, ohne zu lügen, ohne frechen Gloriedünkel — diese adelige Seele, der das Schwerere gelang, auch des Mannes Herz höher schlagen zu lassen, weil er Müttern ihre Söhne, Frauen ihre Männer, Kindern ihre Väter wiederbrachte — dieses schlagende Menschenherz ... welch ein Schauspiel! Dieser heldische Mann, dieser Fridtjof Nansen ... bettelnd um eine Summe — und sie nicht zu bekommen, weil der Herr Bourgeois nicht mag! Welch ein Schauspiel! Ein Hammerschlag fiel in der Ewigkeit!“

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