6680385-1961_41_04.jpg
Digital In Arbeit

FRIDTJOF NANSEN MORALISCHES GENIE

Werbung
Werbung
Werbung

Das Wort Genie kommt vom lateinischen „Ingenium” und bedeutet soviel wie schöpferischer Geist. Ob schon jemand das Wort „moralisches Genie” gebraucht hat? Wenn nicht, müßte es erfunden werden, wenigstens für einen Mann; Fridtjof Nansen, aber nicht den Zoologen, Polar- und Meeresforscher, sondern für den Politiker und großen Organisator internationaler Hilfsaktionen, die in den Jahren 1920 bis 1923 Millionen Menschen vor Not und Tod errettet haben.

Nansens 100. Geburtstag am 10. Oktober erinnert daran, daß er 1861 in der Nähe von Oslo, das damals Christiania hieß, geboren wurde und wohlbehütet, aber spartanisch streng erzogen, im Elternhaus aufwuchs, damals noch umgeben von Wald und Wildnis, die ihm die Liebe zur freien Natur ins Herz pflanzten. 1880 wurde er in Norwegens Hauptstadt Zoologiestudent. Schon 1882 nahm er erstmals an einer Expedition teil: mit dem Robbenfänger „Viking” nach Jan Mayen in der Arktis, die ihn von da an nicht mehr losließ. 1887 88 faßte er den Plan, auf Skiern die Eiswüste von Grönland zu überqueren. Man hielt ihn für verrückt. Aber schon damals zeigte sich in ihm etwas, das ihm bis zum letzten Atemzug treu bleiben sollte: ein immenses Organisationstalent, das seine Phantasie zügelte und leitete. Das Unternehmen gelang.

Dann kam — 1893 96 — die denkwürdige „Fram”-Fahrt in das nördliche Polarmeer. Mit ihr war die erste Polarfahrt bis zum 86. Breitegrad geglückt, und Nansens Name ging um die ganze Welt.

In den Folgejahren betätigte sich .Nansen erfolgreich als Ozeanograph (Meeresforscher) und Publizist. Damit schließt die eine, wissenschaftliche Epoche seines Lebens. Von nun an ruft ihn die Geschichte zu völlig anders gearteten Aufgaben.

Im Jahre 1905 löste sich Norwegen aus der Staatenunion mit Schweden. Es bedurfte der ganzen Autorität Fridtjof Nansens, durch Kontakte mit den europäischen Staaten für die friedliche Lösung des Problems zu werben. Es gelang ihm, und er wurde 1906 der erste Londoner Gesandte des neuen selbständigen norwegischen Staates. Während des ersten Weltkrieges erreichte er durch persönliche diplomatische Fühlungnahme mit den USA die Lockerung der Meeresblockade, die Norwegens Versorgung lahmzulegen drohte.

Das alles waren aber im Grunde nur Vorspiele zu jenen denkwürdigen vier Riesenaufgaben, die die Jahre nach dem ersten Weltkrieg für ihn bereithielten:

• die Heimführung von 450.000 Kriegsgefangenen in ihre 26 Heimatländer im Verlauf von eineinhalb Jahren, vorwiegend aus Sibirien. Die Bewältigung gelang nur im Rahmen des Völkerbundes, dessen erster „Hoher Kommissar für die Krtegsgefangenenrückführung” Nansen wurde.

• Als „Hoher Kommissar für Flüchtlingswesen” des Völkerbundes fing Nansen sodann Millionen Männer, Frauen und Kinder auf, die durch den Krieg heimatlos geworden waren, und siedelte sie neu an. Aus dieser Zeit stammt der noch heute verwendete sogenannte „Nansen-Paß”, ein international gültiges Ausweispapier für Menschen ohne eindeutige Staatsbürgerschaft.

• Die schwerste Arbeit war die internationale Hilfsorganisation für die Hungersnot in Rußland, die nach dem Krieg und der Revolution vorwiegend Kinder als verkümmernde, herumstrolchende „Bespri- sorni” auf die Straße geworfen hatte. Man schätzt, daß durch die.

Nausen-Sammlung gegen sieben Millionen Menschen, darunter sechs Millionen Kinder, vor dem sicheren Hungertod errettet wurden.

• Im griechisch-türkischen Krieg von 1922 waren durch die Niederlage Griechenlands mehr als eine Million Menschen wurzellos geworden. Erstmals in der Menschheitsgeschichte gelang es Nansen, ganze Volksgruppen durch Austausch umzusiedeln: eineinviertel Millionen Griechen verblieben auf griechischem Boden oder wurden dorthin verpflanzt, während 500.000 Türken den umgekehrten Weg antraten.

Alle diese Aktionen forderten von Nansen ein unvorstellbares Ausmaß von Arbeit und nagten an seinem Lebensmark …

Menschen, die ihm nahestanden, berichteten, wie er in diesen Jahren von Müdigkeit übermannt, grau und zerfurcht im Gesicht wurde. Aber er zog die Last weiter — bis er plötzlich umfiel. Er starb an Herzschwäche am 13. Mai 1930, nicht ganz O Jahre alt. Eine einzig dastehende Ehrenbezeugung wurde ihm, der seit 1922 Friedensnobel- preisträger war, zuteil: er wurde am Nationaltag seines Landes, am 17. Mai, zu Grabe getragen.

Ein Leben hatte sich ganz im Dienste der Menschheit verströmt. Es ist deswegen auch nicht richtig, mit den Ärzten zu sagen, daß Nansen starb, weil sein Herz versagte. Er starb vielmehr, weil sein Herz nie versagte …

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung