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Einen Schlußstrich

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Rudolf Heß war 1946 zu lebenslänglicher Haft verurteilt und ins alliierte Gefängnis Berlin-Spandau eingeliefert worden. In dieser Strafanstalt unter Vier-Mächte-Verwaltung war er zuletzt der einzige Gefangene. Schon vor Jahren haben sich verschiedene Stellen für seine Freilassung ausgesprochen. Nun setzt sich eine führende Persönlichkeit der evangelischen Kirche für die Entlassung des 75jährigen ehemaligen Reichsministers Rudolf Heß aus dem Spandauer Kriegsverbrecher-Gefängnis ein. Der hannoversche Landesbischof DDr. Hanns Lilje hat den sowjetischen Ministerpräsidenten Alexej N. Kossygin um Prüfung gebeten, „ob es nicht an der Zeit ist, einen friedlichen Schlußstrich zu ziehen“.

Bereits Ende Jänner 1967 hatte der damalige Vorsatzende des Rates der EKD, Bischof Dr. Kurt Scharf (Berlin), gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Konferenz der Deutschen Katholischen Bischöfe an die vier Alliierten appelliert, Heß auf dem Gnadenweg freizulassen. Während die drei Westmächte zustimmend reagierten, blieb von sowjetischer Seite jede Antwort aus. Im Februar 1968 setzte sich der ehemalige hes-sen-nassauische Kirchenpräsident D. Martin Niemöller (Wiesbaden) im Gespräch mit dem französischen Außenminister Couve de Murville in Paris für die Freilassung von Rudolf Heß ein.

In seinem Schreiben hebt Lilje hervor, daß es ihm zwar nicht zustehe, die politische und juristische Frage der Schuld von Rudolf Heß zu erörtern. Er dürfe jedoch daran erinnern, daß der Nürnberger Gerichtshof Heß 1946 ausdrücklich von der Anklage freigesprochen habe, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. „Es ist aber meine Pflicht“, fährt der Landesbischof fort, „auf den humanen Aspekt aufmerksam zu

machen, zumal ich der Ansicht bin, daß Heß das Maß des persönlichen Leidens, das ihm auferlegt wurde, reichlich erfüllt hat. Ich wäre Ihnen, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, außerordentlich dankbar, wenn Sie wohlwollend prüfen könnten, ob es nicht an der Zeit ist, einen friedlichen Schlußstrich zu ziehen und Rudolf Heß freizulassen.“

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