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RUDOLF HESS DER GEFANGENE VON SPANDAU

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Wenn im Herbst dieses Jahres Baldur von Schirach und Albert Speer das Gefängnis verlassen werden, wird in Spandau nur noch ein einziger Mann zu bewachen sein: Rudolf Heß, in Nürnberg wegen Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Die Frage einer vorzeitigen Entlassung Heß’ ist wieder aktuell geworden.

1894 wurde Walter Richard

Rudolf Heß als Sohn eines deutschen Kaufmannes in Alexandrien geboren. 1908 kam Heß nach Deutschland, machte den ersten Weltkrieg mit, stieß schon 1920 zur NSDAP und wurde Führer der nationalsozialistischen Studentenschaft. Nach dem Putschversuch von 1923 zu Festungshaft verurteilt, kam Heß in der Festung Landsberg seinem Führer persönlich nahe. Hitler wurde für Heß zum zweiten Vater und zum Vorbild, dem er bedingungslos folgte. 1933 machte Hitler den blind ergebenen Fanatiker zu seinem Stellvertreter, dessen Aufgabe in der Leitung der Parteiorganisation bestand. Von der eigentlichen Regierungsarbeit ausgeschlossen, fühlte sich der kontaktarme Heß immer mehr zurückgesetzt. Seine latent vorhandenen Minderwertigkeitsgefühle verstärken sich. Das Gefühl der ewigen Zweitrangig- keit führte ihn auf immer absonderlichere Wege: Er begann unter psychosomatischen Störungen zu leiden, die auf Verdrängungen beruhten, umgab sich mit Astrologen und versuchte schließlich 1941 durch den Flug nach England den Durchbruch zur Erstrangigkeit zu erreichen.

Aber statt zum gefeierten

Friedensstifter zu werden begann für Heß nun die Gefangenschaft, die sich bis an sein Lebensende erstrecken soll. Der Glaube an eine starke Bewegung in Großbritannien, die an einem Sturz der Regierung Churchill arbeitete, zeigte seine mangelnde Einsicht in die Realitäten. Aber es war wohl nicht Unfähigkeit die Tatsachen zu sehen, sondern eine Flucht vor der nicht mehr zu übersehenden Wirklichkeit. — Auswirkungen seines psychischen Zustandes, seines krankhaften Minderwertigkeitskomplexes und seines Verfolgungswahns.

War aber Heß — dessen Zurechnungsfähigkeit in Nürnberg bejaht wurde — wirklich nur der gescheiterte Psychopath? Heß nahm aktiv an der Rassengesetzgebung und an der Planung für die Aufrüstung teil. Der Träumer und Idealist Heß hatte ebenso wie der Träumer und Idealist Himmler — beide bezeichneten sich als tiefreligiöse Menschen — schon sehr früh konkrete, phantastisch anmutende Vorstellungen von der Organisation Osteuropas, von der Behandlung der Juden und Polen als Untermenschen. So bizarr auch diese Phantasien waren, sie wurden zur schrecklichen Wirklichkeit.

Wirr und dunkel waren auch die Ausführungen Heß’ vor dem Tribunal in Nürnberg, aber er blieb seiner Überzeugung treu: „Es war mir vergönnt, viele Jahre meines Lebens unter dem größten Sohne zu wirken, den mein Volk in seiner tausendjährigen Geschichte hervorgebracht hat Ich bereue nichts!“ Hitlers Stellvertreter bereute nicht, daß seine Neurosen mitgeholfen hatten, Auschwitz zu errichten. Nichts deutet darauf hin, daß Heß heute anders denkt. Soll ein solcher Mann, der eine Schuld auf sich geladen hat, deren Umfang kaum abzugrenzen ist, begnadigt werden? Geht es nur darum, einem alten, kranken Mann einen Lebensabend in Freiheit zu verschaffen? Gibt es überhaupt „Freiheit“ für Rudolf Heß? Manche Kreise — darunter auch Mitglieder seiner Familie — haben aus seinem Schicksal ein Politikum gemacht. Ist es daher politisch zu verantworten, für Heß ebenso vorzeitig die Gefängnistore zu öffnen, wie für Neurath, Raeder und Funk? Es gilt, diese beiden Gesichtspunkte abzuwägen — den menschlichen, auf den auch Heß einen Anspruch hat, ebenso wie den politischen.

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