Karl Heinz Bohrer: Die Schönheit des Schreckens
In seiner Wahlheimat London ist der Literaturwissenschaftler und Publizist Karl Heinz Bohrer am 4. August 88-jährig gestorben.
In seiner Wahlheimat London ist der Literaturwissenschaftler und Publizist Karl Heinz Bohrer am 4. August 88-jährig gestorben.
Wie ein Sturmwind fuhr Karl Heinz Bohrer vor einem halben Jahrhundert in die politisch aufgeladenen ästhetischen Debatten in Deutschland. Er stand quer zur etablierten Literaturkritik mit ihren moralisch wohltemperierten Urteilen und pädagogisch geeichten Maßstäben. Die vom deutschen Idealismus beflügelte Abwehr der dunklen Seite der Aufklärung teilte er nicht.
Stattdessen setzte er auf die kathartische Schockwirkung des Schreckens, auf die Erkenntniskraft der plötzlichen Vergegenwärtigung anarchischer Triebkräfte, von Grausamkeit, Gewalt und Exzessen. In zahlreichen Untersuchungen zur Tragik, zu „Mythos und Moderne“ oder zu „Imaginationen des Bösen“, vor allem in seiner auf den Pessimismus der Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk bezogenen Habilitationsschrift „Ästhetik des Schreckens“ setzte er Wegmarken einer eigensinnigen, autonomen Literaturtheorie.
Als Literaturchef der FAZ musste Bohrer 1974 seinem Antipoden Marcel Reich-Ranicki weichen und stach als London-Korrespondent der Zeitung mit brillanten England-Berichten hervor, die 1978 im Band „Ein bisschen Lust am Untergang“ Kenntnisreichtum und politischen Weitblick bewiesen. Als Herausgeber der stilprägenden Kulturzeitschrift Merkur und als Literaturprofessor an den Universitäten von Bielefeld und Stanford verfocht er weiterhin seinen nonkonformistischen Standpunkt.
Den elitären Gestus hatte sich der 1932 in Köln geborene Akademikersohn seit seiner Schulzeit im reformpädagogischen Internat „Birklehof“ im Schwarzwald bewahrt. Von seinen Wohnsitzen in England und vorübergehend auch Frankreich aus kritisierte er das fehlende Stilbewusstsein in deutschen Landen, die provinzielle Verstocktheit und politische Engstirnigkeit der Rechten wie der Linken, das die Politik ersetzende Moralpredigertum der deutschen Grünen und „political correctness“.
Bohrer war ein Radikaler im Wortsinn. Als leidenschaftlicher Antihegelianer verwarf dieser katholisch erzogene Freigeist alle gesellschaftspolitischen oder kunstsoziologischen Einschätzungen der Ästhetik und setzte stattdessen alles auf die Eigenmacht der durch Sprache hergestellten Imagination. Letztlich hatte er seinen ästhetischen Kompass von der Frühromantik wie auch von Traditionen des Surrealismus bezogen. Seine Gewährsleute hießen Brentano, Kleist, Friedrich Schlegel, Baudelaire, de Sade, William Blake, Breton.
In seiner Wahlheimat London ist Karl Heinz Bohrer am 4. August 88-jährig gestorben.