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Das Subsidiaritätsprinzip

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Als vor einigen Jahren an eine führende wissenschaftliche Zeitschrift von einem vorwitzigen Leser die Frage gerichtet wurde, welche Literatur es zum Thema des Prinzips der Subsidiarität gebe, war man in der Redaktion reichlich verlegen. Bei der Literatursuche erwies es sich nämlich, daß wohl da und dort — vor allem bei der Kommentierung der Enzykliken Quadragesimo anno — auf das Prinzip der Sozialethik verwiesen wurde, dies aber nur in einer kursorischen Weise. Erst 1952 erschien von Nell-Breunung eine monographische Darstellung des Problems der Sozialethik (in der Degenfeld-Festschrift), der sich später eine Arbeit von Utz zum gleichen Thema anreihte. Eine Monographie zum Thema der Sozialethik aber gab es bis 1952 auf dem Büchermarkt nicht, obwohl doch alle christliche Sozialreform der Neuzeit das Ordnungsprinzip der Sozialethik beachten, wenn nicht von ihm als Elementarbedingung jeder institutionellen Ordnung ausgehen muß. Wer die Entproletarisierung durchzusetzen versucht, ohne auf die gleichzeitige Durchsetzung der Sozialethik als Ordnungsprinzip zu achten, bekundet, daß er unter Entproletarisierung eine mechanische Neuverteilung der Güter versteht, daß er aber dem Entproletarisierten weder Konsumfreiheit noch Freiheit in der Einkommenserzielung zugestehen will.

Man muß daher dankbar sein, daß der Verfasser des vorliegenden Buches sich auf die Herausstellung der Bedeutung des Prinzips der Sozialethik beschränkt hat und dabei in breiter Darstellung — ausgehend von der Enzyklika Quadragesimo anno — jene Gesellschaftsformen untersucht, die heute dominant, aber offensichtlich nicht den christlichen Sozialprinzipien gemäß sind. Dabei ergibt sich für den Autor die Tatsache, daß es zuvorderst das System des Solidarismus ist, welches in sich das Ordnungssystem, das im Prinzip der Sozialethik angelegt ist. weitgehend verwirklicht. Bis daher können wir dem Verfasser folgen. Wenn er aber im Solidarismus die Uebersetzung der katholischen Sozialphilosophie in die Wirklichkeit der Gesellschaft sieht (50), scheint) es dem Referenten, als ob der Autor zu weit ginge. Der Solidarismus ist auf eine bestimmte geschichtliche) und territoriale Situation angelegt. Wenn versucht! wird, Solidarismus und christliche Sozialphilosophie gleichzusetzen, käme es zu einer Reduktion der Elastizität, die in der christlichen Sozialphilosophie gerade darin liegt, daß sie sich jeder Situation gewachsen zeigen kann. Dabei soll nicht verkannt werden, daß der Solidarismus (der nicht mit seinen austriazistischen nur-politisch bezogenen Spielarten verwechselt werden darf) heute und in Europa das bestdurchdachte Systemgebäude für die Realisierung der Prinzipien der christlichen Sozialreform darstellt.

Was der Arbeit besondere Aktualität verleiht, ist die Tatsache, daß das Prinzip der Sozialethik heute von ungleich größerer Bedeutung ist als zur Zeit der Herausgabe der Enzyklika Quadragesimo anno. Der Staat von heute ist weniger denn je ein Ordnungsgebilde und eher ein imponierendes Machtgebilde, in der Lage, den Menschen bis in die Intimsphäre seines privaten Lebens zu bestimmen. Dabei zeigt sich, daß offener Kollektivismus und orthodoxer Liberalismus konvergent sind und — realisiert — die Freiheit des Menschen zum Rang einer Rechtsfigur erheben, der kein Inhalt zukommt. Freiheit wird dann zu einem Privileg einer immer geringer an Zahl werdenden Schichte.

Gegen die Prinzipien der Vermassung setzt der Autor die Ordnungsthesen der sozialen Enzyklika: Aufgliederung der Gesellschaft nach sachlichen und territorialen Zuständigkeits- und Teilmachtbereichen. Der Staat hat die Funktion eines Koordinators und einer letzten sachlich gerechtfertigten Instanz.

Eine Ausstellung: Die christliche Sozialphilosophie will die Realisierung des Gemeinwohles. Nun ist es meines Erachtens um der Abgrenzung der Begriffe wegen nicht zu begrüßen, wenn, wie dies der Verfasser tut, Sozialethik und Gemeinwohl gleichgesetzt werden. Gemeinwohl muß als ein Zustand verstanden werden, während Sozialethik als eine Summe von Bedingungen wie auch als eine Methode aufzufassen ist.

Das ausgezeichnete Buch E. Links, welches die Frage der Sozialethik in einer sowohl die Theologen wie die Sozialphilosophen ansprechenden gründliehen wissenschaftlichen Art untersucht, kann als Fundgrube von Interpretationen der Enzyklika Quadragesimo anno wie der Thesen der christlichen Sozialphilosophie bezeichnet werden. Darüber hinaus legt der Verfasser die Thesen der christlichen Sozialphilosophie in konzentrierter Form vor, ein begrüßenswerter Versuch gerade im Jahr des Jubiläums der Sozialenzyklika.

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