Strafe Gottes für korrupte Politik

Werbung
Werbung
Werbung

Die Zerstörungen biblischen Ausmaßes lassen die ohnehin sehr spirituell veranlagten Haitianer nicht nur nach wissenschaftlichen Erklärungen suchen – viele sehen ein Zeichen Gottes.

Bei der Zerstörung biblischen Ausmaßes, die ihre Heimat heimgesucht hat, sehen viele tiefgläubige Haitianer die Hand Gottes am Werk. Geistliche interpretieren das Erdbeben als Zeichen, dass sich etwas ändern muss. Was genau, hängt von der Religion ab: Manche Christen meinen, Haiti müsse stärker werden im Glauben. Manche Voodoo-Anhänger betrachten die Naturkatastrophe als Gottesurteil gegen die Korruption der Elite. Der Großteil der Haitianer ist katholisch; Protestanten sind in der Minderheit. Doch die meisten Christen praktizieren auch Voodoo, das wie der Katholizismus Staatsreligion ist.

Alle Machtbauten zerstört – ein Zeichen Gottes?

Überall in der zerstörten Hauptstadt Port-au-Prince versammelten sich am Sonntag verstörte, verzweifelte Menschen zum Gebet. Vor der in Trümmern liegenden Kathedrale predigte Pfarrer Eric Toussaint der Gemeinde, das Beben sei „ein Zeichen Gottes, das uns sagt, wir müssen seine Macht erkennen“. Die Haitianer müssten „sich wiederentdecken, um einen neuen Weg zu Gott zu finden“. So mancher Anhänger des Voodoo-Kults betrachtet die Zerstörung wichtiger Machtsymbole dagegen als Strafe für die korrupten Politiker, die zuließen, dass sich die Führungsschicht auf Kosten der Armen bereichert.

„Wenn plötzlich, in 15, 20 Sekunden, sämtliche Verkörperungen der Korruption zerstört werden, dann gibt dir das zu denken“, meint der haitisch-amerikanische Musiker Richard Morse; seine Mutter war Sängerin und Voodoo-Priesterin. „Das Justizministerium: platt. Der Nationalpalast: platt. Das UN-Hauptquartier: platt.“ Die bekannte Bronzestatue „Le Maron Inconnu“ (Der unbekannte geflohene Sklave) wiederum ist unversehrt, bemerkt Morse. Dass jede größere katholische Kirche der Hauptstadt einschließlich der Kathedrale zerstört wurde, hält Morse auch für ein Zeichen: „Wenn es diese ganze Korruption gibt, wer in der Gesellschaft müsste dann die Stimme erheben? Sollte nicht die Kirche den Mund aufmachen?“

Einer, den Morse mit seiner Kritik nicht gemeint haben kann, ist Bischof Louis Kébreau. Der Erzbischof von Cap-Haitien, der zweitgrößten Stadt Haitis, geißelt seit Jahren die Honoratioren des Landes als korrupte, selbstsüchtige Elemente, die den Untergang des Landes verschuldet hätten. Louis Kébreau, der zugleich auch Vorsitzender der haitianischen Bischofskonferenz ist, gilt als ein Mann der klaren Worte und als das Gewissen der Nation. 1963 trat er in den Orden der Salesianer Don Boscos ein. Als Bischof konnte er jahrelang keinen Schritt vor die Türe tun ohne schwer bewaffnete Leibwächter. Man befürchtete einen Anschlag vonseiten der „Schimären“, bewaffneter Gruppen, die die Rückkehr des gestürzten Staatspräsidenten Jean-Bertrand Aristide forderten, der 2004 zum Exil gezwungen wurde.

Kébreau war für die Anhänger Aristides ein „rotes Tuch“: Als Provinzoberer der Salesianer war er in den unruhigen Jahren 1983 bis 1986 Vorgesetzter des Mitbruders Aristide, der es zum Revolutionsführer und Staatspräsidenten brachte. Da Kébreau als Hausoberer den jungen Mitbruder an seine Pflichten als Ordensmann erinnerte, entführten ihn dessen Anhänger, um ihn tagelang als Geisel zu demütigen.

Bei der Vereidigung des jetzigen Präsidenten René Garcia Préval forderte Bischof Kébreau die Politiker des Landes auf, alles zu tun, um den Leidensweg des haitianischen Volkes zu beenden. Statt zu feiern, sollten sie sich sofort an die Arbeit machen. „Unser Land ist völlig paralysiert,“ analysierte er im Gespräch mit der FURCHE wenige Wochen vor dem Beben die Notlage: „Wir müssen den Menschen Hoffnung geben. Solange sie in Angst und Resignation verharren, wird sich nichts ändern. Nur ein Mensch, der Hoffnung hat, kann sein Schicksal meistern.“

Haiti: Spirituell eines der reichsten Länder der Welt

In dem Chaos nach der Katastrophe sah man am Sonntag einige Menschen mit apokalyptischen Warnungen durch die Hauptstadt ziehen. Vor den Trümmern des Nationalpalasts stand ein Mann und rief: „Tut Buße! Das Ende der Welt ist nah!“ Seine Landsleute hätten vielleicht viel Mangel zu leiden, doch „was spirituelle Stärke angeht“, erklärt Richard Morse, „ist Haiti eines der reichsten Länder der Welt“. Jetzt aber scheint das Leid für viele zu groß, um Trost im Glauben zu finden. „Wie konnte Er uns das antun?“, weinte Remi Polevard, der seine fünf Kinder unter den Trümmern eines Hauses nahe der Universität begraben weiß. „Es gibt keinen Gott!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung