Haiti braucht mehr als nur Lebensmittel

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Die Internationale Staatengemeinschaft hat Haiti zehn Mrd. Dollar zur Überwindung der Folgen des Erdbebens zugesagt. Damit sollte vor allem Hilfe zur Selbsthilfe finanziert werden.

Drei Monate nach dem Erdbeben in Haiti hat mich Präsident Préval in seinem Büro in Port-au-Prince empfangen – ein schlichter Bau in den Gärten hinter dem zerstörten Präsidentenpalast. Bildung, sagte er gerade heraus, muss ein Eckpunkt in den internationalen Bemühungen sein, um Haiti wiederaufzubauen. Ohne das gibt es keine Zukunft.

Kurz danach habe ich eine überfüllte Zeltstadt für Tausende Familien besucht. Eine schmächtige Mutter schob ihr strahlendes Kind, das kaum älter als acht ist, in meine Richtung und sagte mit gelassener Beharrlichkeit: „Er will lernen. Geben Sie ihm eine Chance!“

Die Erklärungen zweier Menschen, die sehr verschiedene Positionen einnehmen, haben denselben Tenor. Haitianer wollen und brauchen unsere Hilfe, aber was die Arbeit des Wiederaufbaus in Haiti betrifft, wollen sie es selbst tun. Und diese Arbeit fängt mit der Schule an.

Schulausbildung ist der Schlüssel für eine vernünftige Arbeit, noch mehr als anderswo, in einem Land wie Haiti, in dem die Arbeitslosigkeit hoch ist und Arbeitsstellen rar sind. Es gibt jedoch noch eine unmittelbarere Realität. Nach einer Katastrophe bewirkt Schule mehr als bloß das Fördern von Lernen. Sie ist ein Ort der Sicherheit, der Hoffnung für die Zukunft bietet. Wenn Menschen nahe der Verzweiflung leben – wegen mangelnder Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und Unterkunft – bedeuten diese Dinge mehr als je zuvor. Das ist der Grund dafür, warum die Mission der Vereinten Nationen in Haiti darauf hingearbeitet hat, Schulen so schnell wie möglich wieder zu öffnen. Mütter und Kinder sind besonders verletzlich. Nachdem ich einen Nachmittag in einem Lager verbracht und an einer Nachtpatrouille teilgenommen habe, kannte ich ihre Ängste und Frustrationen. Wenn es regnet, wird der Boden zu Schlamm und ihre Zelte brechen zusammen; sie haben dann keinen trockenen Schlafplatz. Schließlich gibt es dazu oft Gewalt und Vergewaltigungen in den dunklen Winkeln. Die Vereinten Nationen haben Fortschritte im Umgang mit all diesen Problemen gemacht.

Eigenverantwortung

Da unsere Aufmerksamkeit sich von der unmittelbaren Krise zum Wiederaufbau auf lange Sicht verlagert, bin ich mit einer klaren Vorstellung zurückgekommen, was an vorderster Stelle benötigt wird: Eigenverantwortung. Haitianer, die ich getroffen habe, haben es bereits am besten ausgedrückt. „Keine Almosen“, rief eine Gruppe arbeitsloser Jugendlicher in Léogâne, als sie ihrer Frustration Luft machten. Ihre Familien haben den Großteil ihres Besitzes verloren, aber ihr Stolz war unberührt: „Geben Sie uns Schulen. Dann werden wir uns um den Rest kümmern.“

Schon vor dem Erdbeben lag die Analphabetenrate in Haiti unter den höchsten und die Einschulungsraten unter den niedrigsten dieser Hemisphäre. Zwei von fünf Erwachsenen können nicht lesen und nur weniger als die Hälfte der Kinder im Volksschulalter besuchten den Unterricht. Die Zahlen für die Sekundarschule waren sogar noch schlechter. Haitis Regierung hat wenig Kontrolle über diese Situation. Die Mehrheit der Schulen werden privat betrieben, nur zehn bis 15 Prozent werden vom Staat geführt, was dazu führt, dass Standards nicht ausreichend eingeführt und überwacht werden können. Schließlich kann Haiti nur in dem Maß gedeihen, in dem wir seine Bürger ernähren – und wer wüsste das nicht besser als die Haitianer selbst.

Ich verstehe ihre Gefühle. In meiner Heimat Tansania war unser Gründungspräsident bekannt unter dem höchsten Titel, den wir verleihen konnten: „Lehrer“. Bei die Geberkonferenz in New York letzten Monat hat die Internationale Gemeinschaft nahezu zehn Milliarden US-Dollar für Haiti aufgebracht.

In Zusammenarbeit mit der Regierung Haitis und anderen Partnern planen die Vereinten Nationen ein landesweites Programm für Bildung. Das Ziel: die Einschreibung aller Kinder und Jugendlichen in Schulen zu fördern. Haiti braucht Solidarität. Das bedeutet: Baumaterial, Gesundheitskliniken, Sanitärsysteme und Nahrungsmittel. Es bedeutet aber auch mehr als das Unmittelbare.

Bücher, Lehrer und Bildung müssen darunter sein, wie Präsident Préval und viele Mütter deutlich gesagt haben. Schließlich sind sie der Schlüssel zu einem besseren Leben und einer bessern Zukunft. Haitis wunderbare und einfallsreiche Bürger verdienen nicht weniger.

* Die Autorin ist stellvertretende UN-Generalsekretärin

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