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Nur eine kleine Insel

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SELTSAMERWEISE VERWECHSELT MAN in einem kulturell so hoch entwickelten Land wie Österreich Haiti häufig mit Tahiti oder Hawaii, obwohl die letzteren sich im Pazifischen Ozean befinden und Haiti dm Golf von Mexiko, östlich von Kuba, gelegen ist. Dies liegt vielleicht daran, daß Österreich und Haiti leider keine diplomatischen und. konsularischen Beziehungen unterhalten.

Die Insel Haiti (Haiti heißt im Karibischen Bergland) ist in zwei Teile geteilt: Die Republik Haiti, Hauptstadt Port-au-Prince, deren offizielle Sprache französisch ist und deren Einwohnerzahl fünf Millionen beträgt und im Osten die Dominikanische Republik, die zwei Drittel der Insel umfaßt und drei Millionen Einwohner zählt, mit der Hauptstadt Santo Domingo und als offizielle Sprache spanisch. Die Gesamtausdehnung der Insel erstreckt sich auf 77.000 Quadratkilometer.

Haiti war das Land, wo Ghristoph Kolumbus das erste Mal den Fuß auf .amerikanischen Boden setzte. Und dieses Land erschien ihm so schön, daß der große Seefahrer es, im Gedenken an Ferdinand und Isabella von Kastilien, Hispaniola (das heißt kleines Spanien) nannte.

HAITI IST EINE DER ANZIEHENDSTEN Inseln des Karibischen Meeres. Nicht nur wegen seiner geographischen Lage, die es zu einer Brücke zwischen Nord- und Südamerika macht, sondern auch durch sein abwechslungsreiches Klima. In diesem Land kann man sich von 35 Grad Celsius in 15 Grad Celsius begeben, ohne sich dessen bewußt zu werden, so sehr wird man gefangengenommen von der Schönheit der Landschaft, bekannt für die Vielfalt der prächtigen Blumen, dem ewig phosphoreszierenden Meer und den Bergen, die sich über weiten Ebenen erheben.

Neben dem Fischfang ist es .die Jagd (auf Geflügel, denn Raubtiere gab es nie), die betrieben wird. In diesem blumen- und früchtereichen Land ist es nicht heiß genug für tropische Wildarten und Reptilien, aber auch nicht kalt genug für das in Österreich heimische Wild. Da Haiti noch nicht völlig in die Ära der Industrialisierung eingetreten ist, kann man sich noch den Freuden der Natur hingeben, ohne van Verkehrslärm und Fabriksrauch gestört zu werden.

ALS AM 6. DEZEMBER 1492 DIE Spanier von der Insel Besitz ergriffen, lag das Gold an der Erdoberfläche. Die karibischen Indianer, die die Insel bewohnten, liefen den Spaniern entgegen, um ihnen Geschenke zu überreichen, sie wußten nicht, daß sie es mit Eroberern zu tun hatten. Die Spanier begannen mit der Zwangsarbeit, die zur Goldgewinnung eingeführt wurde, die Bevölkerung allmählich zu vernichten.

Die spanische Besetzung dauerte fast 300 Jahre. Durch den Vertrag von Ryswick, im Jahre 1697, trat Spanien den westlichen Teil der Insel und, durch den Vertrag von Basel, 1795 den östlichen Teil an Frankreich ab. Die Franzosen tauften mm Hispaniola Saint Domingue.

Im 17. Jahrhundert organisierte Frankreich den Sklavenhandel und importierte nach Saint Domingue eine beträchtliche Anzahl von Schwarzen, um den Boden zu bearbeiten, da die Indianer durch die Zwangsarbeit getötet worden waren oder man sie von Hunden hatte zerreißen lassen, sobald sie versuchten, in die Berge zu flüchten. Zur Zeit des Vertrages von Basel war Haiti die blühendste der Karibischen Inseln. Man exportierte Zucker, Sirup, Indigo, Baumwolle usw.

Das Echo der Französischen Revolution drang jedoch nach Saint Domingue und in der Nacht vom 25. auf den 26. Juni lehnte sich ein Sklave auf: Toussaint Louverture.

Toussaint Louverture forderte die Abschaffung der Sklaverei und die Unabhängigkeit Saint Domingues. Die Schwarzen, kaum mit Waffen versehen, kämpften mit primitiven Mitteln gegen die Franzosen: Feuer, Steine, Fallen.

Der Aufstand breitete sich aus, und Napoleon Bonaparte, beunruhigt durch die Revolte in Saint Domingue, ernannte seinen Schwager, den General Leclerc, Gatte Pauline Bonapartes, zum Gouverneur der Insei und entsandte, 1802, die großartigste Kolonialexpedition, die jemals von Frankreich unternommen worden war: 22 Schiffe, 42.000 Mann, unter ihnen die Veteranen aus Ägypten.

Die Franzosen gingen auf Kap- Haitien an Land, das General Christophe soeben in Brand gesteckt hatte, und boten in der folgenden Schlacht alle ihre Kräfte auf gegen Toussaint, der inzwischen eine wahre Armee mit den den Franzosen abgenommenen Waffen gebildet hatte.

Am 18. April 1802 bat General Leclerc um eine Unterredung mit Toussaint Louverture, um über den Abzug der französischen Streitkräfte und die Unabhängigkeit von Saint Domingue zu verhandeln. Toussaint begab sich ohne Eskorte zu dieser Unterredung, aber sie war eine Falle. Toussaint wurde .gefangen- genommen. Als er das Schiff „Le Héros“, das ihn nach Frankreich bringen sollte, bestieg, rief er: „Indem man mich niederschlug, hat man nur den Stamm des Baumes der Freiheit der Schwarzen von Saint Domingue abgeschlagen. Er wird wieder wachsen, denn seine Wurzeln sind lebendig und reichen tief.“ General Toussaint Louverture wurde im Fort de Joux im französischen Jura eingekerkert, wo er im Jahre 1803 starb.

Jean-Jacques Dessalines folgte auf Toussaint, und der Krieg breitete sich auf der ganzen Insel aus. Dessalines versammelte eines Abends alle Militärchefs in einer Vaudou-Zeremonie, während derer sie alle schworen, die Franzosen von der Insel zu verjagen.

Alle französischen Kräfte waren in einem auf dem Gipfel eines Berges gelegenen Fort, dem Fort Ver- tieres, konzentriert. General Capois, der mit der Expedition betraut war, griff trotz ungleicher Kräfte die Franzosen an. Eine Kugel riß ihm den Hut vom Kopf; „Vorwärts“, schrie er; eine zweite Kugel tötete sein Pferd, er stand wieder auf und schrie noch lauter: „Vorwärts, die Kugeln sind nur Staub!“ General Rochembeau, der an diesem Tag das Fort befehligte, befahl, ‘ mit dem Kämpfen aufzuhören Und sandte dem General, der sich mit so viel Ruhm bedeckt hatte, ein neues Pferd. Der Kampf brach mit derselben Heftigkeit wieder los, und die Franzosen wurden besiegt.

Dessalines erklärte am 1. Jänner 1804 die Unabhängigkeit des Landes, das seinen alten indianischen Namen Haiti wieder annahm. Haiti war somit das erste unabhängige Land Lateinamerikas.

DESSALINES WURDE ZUM HERRSCHER auf Lebenszeit erklärt. Zwei Jahre später wurde Kaiser Jacques I. auf der roten Brücke, nahe bei Port-au-Prince, ermordet. Das Land wurde in zwei Teile geteilt. Das Königreich des Nordens mit Henri Christophe als König und die Republik im Westen und Süden mit General Alexandre Petion als Präsident

König Christophe zeigte sich von unerhörter Grausamkeit und erwies sich als genialer Bauherr: Der Palast der 365 Türen, die Zitadelle Lafer- riere, der Palast „Sans Souci“, die Kapelle von Milot waren die grandiosesten Bauten seiner Regierung. An seinem Hof versammelte er Dichter, Maler, Schriftsteller und sein Königreich erfreute sich einer ständig wachsenden Blüte. König Christophe wurde jedoch nicht geliebt, er wurde gefürchtet. Man erzählt, daß um eine Kanone auf den Gipfel der Zitadelle zu schaffen, 250 Männer nicht genug Kraft hatten. Er tötete 25, und als die Kanone noch immer zu schwer war, weitere 25, die restlichen 200 schafften die Kanone auf den Gipfel. Als Christophe krank und sich alt werden fühlte, tötete er sich, 1820, mit einem Schuß ins Herz. Die Kugel, so behauptet man, war aus Gold.

Alexandre Petion’dagegen war ein einfacher Mann. Er führte organisatorische Maßnahmen im Landesinneren durch, bemühte sich vor allem um das Schulwesen und begründete das Ansehen seiner Regierung im Ausland. Er ist in der ganzen Welt bekannt als der Vater des Panamerikanismus. Als Bolivar, infolge des Mißlingens seines Revolutionsversuches, nach Haiti geflüchtet war, entschloß sich Petion, die Bewegung zu unterstützen, die Südamerika von der spanischen Herrschaft befreien sollte. Er gewährte Bolivar Hilfe in Form von Männern, Schiffen und Geld.

Bolivar befreite damit Venezuela’ und gründete Großkolumbien. Viele Historiker sind .sich darüber einig, daß ohne die Hilfe Haitis die Unabhängigkeit Südamerikas weniger schnell erreicht worden wäre.

Hier ist es auch am Platz, an den Beitrag Haitis zur Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten zu erinnern. Denn es waren haitianische Krieger, die unter der Führung von La Fayette den berühmten Sieg in der Ebene von Savannah davontrugen, der einer der entscheidenden war.

Petion starb 1818, und auf ihn folgte ein anderer Veterane des Unabhängigkeitskrieges, Jean-Pierre Boyer. Er vereinigte die beiden Teile des Landes unter seiner Herrschaft nach dem Tode König Chri- stophes. Er wurde im Jahre 1843 abgesetzt, und es folgte eine Reihe kurzer Regierungen. Unter einer von ihnen revoltierte 1844 der Osten des Landes und erklärte sich unter dem Namen Dominikanische Republik unabhängig,

VOM TAGE DER UNABHÄNGIGKEIT BIS HEUTE hatte Haiti ungefähr 115 Regierungen. Nur zwei oder drei Staatschefs konnten ihr Mandat vollenden. Die anderen wurden entweder von der Revolution getötet oder verbannt.

Derzeit wird das Land von einem Arzt, Dr. François Duvalier, der am 22. September 1957 für die Dauer von sechs Jahren und nun zum Präsidenten auf Lebenszeit der Republik Haiti gewählt wurde, regiert.

Wenn man die internationale Presse liest, stellt man fest, daß Präsident Duvalier mehr Gegner als Anhänger zählt. Aber selbstverständlich kann man nicht à priori an alle Anekdoten glauben, die die internationale Sensationspresse verbreitet. Im objektiven Licht der Tatsachen ist eine psychologische und synthetische Analyse des Regimes Duvaliers, wie sie in einem zukünftigen Artikel unternommen werden wird, sehr aufschlußreich. Auf jeden Fall hat Präsident Duvalier das Verdienst, und niemand kann ihm das bestreiten, daß er sich an der Macht gehalten hat, einige Zeitungsartikel werden ihn nicht stürzen.

Was die Sprache und Kultur anlangt, gehört Haiti mehr zu Frankreich als zu Spanien oder Afrika. Es wird durch die kulturellen Traditionen vielleicht den beiden letzteren nahegebracht, aber die Basis war vor allem durch das französische Kolonialerbe geformt worden. Als Haiti noch französische Kolonie war, ließen die Franzosen und Freigelassenen ihre Kinder meist in Frankreich studieren. Dies änderte sich auch nach der Unabhängigkeit nicht, verstärkte sich im Gegenteil. Nicht nur die haitianischen Dichter wurden vom Land, vom Klima, von der Geschichte, vom Volk ihrer Insel inspiriert, sondern auch ausländische Schriftsteller. Die Inspiration für „Burg Jargual“ kam Victor Hugo aus dem Kampf der Haitianer für ihre Freiheit.

Sich des Beispiels Haiti bedienend, verlangte Abbé Grégoire vor der französischen Nationalversammlung die allgemeine Abschaffung der

Sklaverei.

Ein Franzose, Victor Cochinot, schrieb ein ziemlich gehässiges Werk gegen Haiti und seine Bewohner. Louis Joseph Janvier, zu jener Zeit Botschafter Haitis in Paris, antwortete mit „Haiti und seine Verleumder“. Diese Antwort fand derartigen Widerhall im französischen intellektuellen Milieu des 19. Jahrhunderts, daß Victor Cochinot Selbstmord beging. Dieser Janvier, Botschafter am englischen Königs- hof, ließ dort nochmals den Namen Haitis glänzen. Am Geburtstag der Königin Viktoria ergriff keiner der anwesenden Botschafter das Wort, um die Königin zu beglückwünschen. Janvier, erstaunt, erhob sich und hielt eine Rede, auf die die Königin, zu Tränen gerührt, ihren Thron verließ, um den haitianischen Botschafter dreimal zu küssen. Das dankbare England machte dem Gesandten ein Schiff, genannt „Die drei Küsse der Königin“, zum Geschenk. Dieses Schiff, das Janvier seinem Land gegeben hatte, wurde von diesem „La Crefe à Pierrot“, in Erinnerung .an die berühmteste Schlacht für die Unabhängigkeit, die Dessalines gewonnen hatte, genannt, und fand 1902 ein heroisches Ende. Der Kommandant hieß die Mannschaft das Schiff verlassen, umwickelte sich mit der Nationalfahne, schloß sich im Pulverraum ein und sprengte das Schiff, um es nicht den Deutschen übergeben zu müssen, die Haiti angriffien.

AUCH DER VAUDOU IST eine der ständigen Inspirationsquellen für Dichter und Künstler. Er ist ein Thema, das immer wiederkehrt und mit seinen Mysterien eine Komponente des haitianischen Lebens bildet. Mit seiner Kunst und seiner eigenartigen Kultur ist der Vaudou eine wundervolle Tradition. Der Vaudou ist mit seinen versteckten Feinheiten, seinen Zeremonien und Tänzen, die Schauder und Entzücken, Schreie des Schmerzes und der Trauer hervorrufen, für den Haitianer einer der Wege, die zum Wunderbaren des Lebens führen.

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