Der größte Hilfseinsatz im ärmsten Land

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Für die Caritas war der Journalist Andreas Lexer als Helfer und Kommunikator nach demn Erdbeben auf Haiti. Der Einsatz der Organisationen ist schwierig und arbeitsreich, aber die Hilfe kommt an. Ein Lokalaugenschein.

Das Erste, das mir nach der Rückkehr in Österreich entgegentritt, sind Beleidigungen. Zeitungen titeln: „Die Hilfe kommt nicht an“. Nach zwei Monaten in Haiti, mit mehr als zwölf Stunden Arbeit pro Tag und keinem freien Tag, um den Menschen nach dem Erdbeben beizustehen: Ein Affront, nicht nur gegenüber Helfern der NGOs, darunter zahlreichen Österreicher. Auch jene, die zu Hause gespendet haben, fragen irritiert, was mit ihrem Geld passiert ist.

Ein Beitrag in einem ORF-Magazin belegt die Irrtümer mancher Darstellungen. Journalisten besuchen ein Camp, in dem Menschen Zuflucht gefunden haben. Aus dem Off fällt der Satz: Von internationaler Hilfe ist hier nichts zu sehen. Im Bild rüsten Haitianer gerade ihre Notunterkünfte gegen den Regen – mit blauen Planen, die sie eben von internationalen Hilfsorganisationen erhalten haben. Etwa 300.000 dieser Planen sind bisher verteilt worden, zusammen mit Nägeln und ein paar Seilen bilden sie die sogenannten „Shelter Kits“.

Mehr Platz wegen Brandgefahr

Sie werden in der Hauptstadt Port au Prince verteilt, weil in städtischen Gebieten keine Zelte vorgesehen sind. Die Camps vor dem Präsidentenpalast etwa sind zu dicht besiedelt für die 50.000 Zelte, die für den ländlichen Raum bestimmt sind. Dort ist mehr Platz. Ein Familienzelt misst vier Mal vier Meter, mit Bespannung etwa sechs Mal sechs Meter. Zwischen den Zelten muss ausreichend Platz sein, denn bei Feuer muss weitere Entfachung durch Funkenflug vermieden werden, damit das Camp nicht niederbrennt.

Eine Nacht Regen, keiner schläft

„Wir werden die Menschen aus den überfüllten Camps umsiedeln“, sagt Isaac Boyd, Shelter-Experte der US-amerikanischen Caritas. Insgesamt müssen 250.000 Haitianer aus den Camps auf strukturierte, für die Zeltstädte besser geeignete Grundstücke übersiedeln. „Zwei große Flächen in den Randbezirken der Stadt sind in Vorbereitung, über die Benützung von drei weiteren ist man mit den Besitzern der Grundstücke in Verhandlung“, so Boyd weiter.

Ein solches Terrain vorzubereiten ist mit einiger Arbeit verbunden: Das Gelände muss planiert und gesichert werden, genügend sanitäre Anlagen müssen installiert werden, im Moment wird mit Hochdruck daran gearbeitet.

Die Zeit drängt. Die Regenzeit hat offiziell am 21. März begonnen. Obwohl der wirklich schwere Regen erst im Mai einsetzen soll, hat Haiti schon gespürt, was das bedeutet. Schwerer Sturm über dem Land, Blitze zucken am Himmel, Donner grollt, aber das Schlimmste: Es regnet in Strömen.

Wie viel Regen wirklich gefallen ist, erkannt man im Petion Ville Club, der 50.000 Menschen Zuflucht bietet. Das Camp wird von Teilen des Caritas-Netzwerks verwaltet. Es liegt auf einem Hang, der in Blau und Orange leuchtet – den Farben der Plastikplanen, die vor dem Regen schützen sollen.

Aber gegen so viel Wasser ist man machtlos: Der Regen begann abends und dauert die ganze Nacht hindurch. Ströme fließen den Hügel hinab, dringen in alle Verschläge. „Niemand hat in dieser Nacht geschlafen, alle hatten Angst“, sagt Ernst Fleurine. Der 47-Jährige, der seit dem Erdbeben in Petion Ville Club lebt, hat noch versucht, das Wasser irgendwie aufzuhalten, mit Tüchern den Boden abzudichten, während seine Kinder in der anderen Ecke des Verschlages vor Nässe zitterten.

Am Morgen gleicht das Camp einem Sumpf. Die Bewohner stützen sich auf Stöcke, um sich auf den schlammigen Wegen fortbewegen zu können. Die Füße sinken bis zu den Knöcheln in Matsch ein. Die meisten bewegen sich barfuß, weil die billigen Flip-Flops stecken bleiben, einige haben sich Plastiksäcke um die Füße gebunden. Die Menschen jetzt aus diesen Camps abzusiedeln hat für die Hilfsorganisationen Priorität. „Wir gehen freiwillig. Nach diesem Regen hat jeder eingesehen, dass wir hier nicht mehr bleiben können“, sagt Ernst Fleurine. Trotzdem wird die Umsiedelung eine enorme logistische Herausforderung.

Ein kräfteraubender Einsatz ...

Neben der Unterkunft kümmern sich die Hilfsorganisationen auch um die Verpflegung. Haiti war schon vor dem Erdbeben am 12. Januar das ärmste Land der westlichen Hemisphäre, 60 Prozent der Haitianer galten als unterernährt. Zu behaupten, dass es ihnen jetzt besser ginge, wäre zynisch. Und sicher ist es auch für Helfer wie mich oft schwer auszuhalten, dass die humanitäre Hilfe noch nicht alle Opfer erreichen konnte. Mehr Menschen als zuvor haben regelmäßig ihre Teller voll. Seit dem Beben sind fast fünf Millionen Menschen mit Lebensmittel versorgt worden, 1,2 Millionen bekommen täglich frisches Trinkwasser.

Haiti bedeutet den größten humanitären Einsatz in der Geschichte. Das Land hat de facto keine eigenen Infrastrukturen, nahezu alles noch muss eingeführt werden, das kleinste Reiskorn, schweres Gerät zur Räumung der schuttüberhäuften Straßen, Zelte und vor allem Know-how. Die Hilfsorganisationen arbeiten in Clustern zusammen. Sie strukturieren ihre Koordination, um so effektiv und schnell wie möglich helfen zu können. Es ist ein langwieriger, ein mühsamer und oft sehr kräfteraubender Prozess. Aber eines ist sicher: Die Hilfe kommt an.

Benefizabend für Haiti

Mit Varieté, Diplomaten und Künstlern. Freitag, 30.4., 19.30 Uhr, Diplomatische Akademie Wien.

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