Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Banknoten unerwünscht
Giuseppe Turiddu gräbt gerade mit einem Freund. Er legt die Trümmer, die früher sein Haus waren, zur Seite und ackert mit einem rüden Pickel die Erde. Eine Uhr und einen goldenen Kugelschreiber hat er schon gefunden. Die Eheringe Sucht er noch.
Diese kleinen Gegenstände sind das einzige, was ihm noch geblieben ist. Giuseppe Turiddu, 53 Jahre alt, hat kein Haus mehr, seine Familie ist tot. Er ist ein Erdbebenopfer aus Süditalien.
Er ist in Laviano nicht der einzige, der sucht und verzweifelt ist. Die Ortschaft, an einem Berghang gelegen, von Feldern und Olivenbäumen umgeben, steht nicht mehr. Kein einziges Haus ist von der schweren Naturkatastrophe verschont geblieben.
Von den 2000 Bewohnern sind nur noch 1700 übriggeblieben; 300 Menschen starben unter den Trümmern. Eine Straße, jetzt Schutthaufen, wurde vor zwei Stunden abgesperrt. Man fand eine Leiche, und nun desinfiziert die Feuerwehr die unmittelbare Umgebung.
An der Bergkuppe stand früher die Kirche. Der Turm existiert nicht mehr. Augenzeugen stürzten beim ersten Erdstoß aus der Kirche und sahen dann, wie der Turm in sich zusammenfiel. Dieselbe Situation erlebten auch andere Menschen. Ein Zittern, ein Grölen: „Hinaus ins Freie“ war der einzige Gedanke
Jetzt, einen Monat nach der Katastrophe, leben die Einwohner von Laviano in Wohnwagen, Wohncontainern aus Blech oder in Fertigteilhäusern. Vier solcher Häuser pro Tag werden von den italienischen Militäreinheiten aufgestellt. Rund 40.000 Mann stehen im gesamten Erdbebengebiet im Einsatz.
Am Fuß des Berges ist inzwischen eine Wohnwagenstadt geboren. Das Militär koordiniert und hilft in organisatorischen Fragen. Weil ein makabrer Handel mit Särgen betrieben wurde, lud das Militär in jeder betroffenen Ortschaft dutzende Särge an den Straßenrand: Die Menschen sollten sehen, daß es davon genug gibt.
Ein Deutscher füllte seinen Aktenkoffer mit Geld und fuhr nach Südita
lien, um den Menschen zu helfen. Er wollte Banknoten verteilen und wunderte sich, daß niemand der stolzen Bauern Geld aus dem Koffer nahm.
Auf solche Hilfe können sie verzichten. Wenn aber Stroh und Heu gebracht werden, sind sie dankbar dafür.
In Battipaglia, einer Kleinstadt mit rund 25.000 Einwohnern, ist kein Haus eingestürzt, doch manche wackeln. Dort koordiniert der Malteser-Ritterorden die Hilfsmaßnahmen, die aus Österreich kommen.
Zwei österreichische Ritter - aus Wien und Zeltweg - sammeln hier Warenspenden. Ein Durchgang durch die riesige Lagerhalle vermittelt den Eindruck, die gesamte österreichische Wirtschaft hätte sich an den Hilfsaktionen beteiligt. Markenunterhosen, 2000 Paar Gummistiefel, Qualitätskaffee, Kakao, Medikamente wechseln mit ge
spendeten Altkleidern ab, die laufend von italienischen Hoobyfunkern sortiert und ins Krisengebiet gebracht werden.
Pfadfinder aus der Alpenrepublik räumten in Calabritto Trümmer weg und fanden Gegenstände, die den Menschen wieder übergeben wurden. Und das ist viel. In Laviano freute sich ein Bauer, zumindest einen unversehrten Sessel aus seiner demolierten Wohnung retten zu können.
In Bagni Contursi errichtete die Deutsche Bundeswehr ein mustergültiges Feldlazarett. Das italienische Heer hat 86 Hubschrauber im laufenden Einsatz.
Trotz aller Hilfe leben die Menschen hier immer noch in Angst. Als am Bahnhof von Battipaglia ein Zug abfuhr, zuckten fußballspielende Kinder zusammen.
Die Wohnwagenstädte gewinnen immer mehr an Infrastruktur. Bürgermeisteramt und Magistrat verfügen über eigene Wohnwagen; Toiletteanlagen, Post und auch der Carabinieri-Posten sind in solchen Städten eingerichtet.
Studenten aus Mailand haben in einem großen Blechcontainer eine provisorische Schule eingerichtet: Morgen beginnt der Unterricht.
Die Wohnwagen kommen aus ganz Europa. Alle sind nach ihrem Herkunftsort beschriftet: Genua, Mailand, Belgien, Großbritannien. Anderswo im Erdbebengebiet stehen auch solche aus Österreich.
Der Wiederaufbau wird sich sehr schwierig gestalten. Der „Centro Operative“, eine der militärischen Einsatzzentralen, die in Salerno errichtet wurde und auch über rasch installierte Computer verfügt, teilte die Hilfsmaßnahmen in drei Phasen ein.
Die erste, bereits abgeschlossene, bestand in der Bergung und Rettung von Menschenleben. Die zweite upifaßt sämtliche Aufräumearbeiten sowie die Unterbringung der Opfer in menschengerechten Behausungen. Die dritte Phase wird erst in einem halben Jahr erreicht sein: Der konkrete Wiederaufbau der zerstörten Orte soll dann beginnen.
Da wird es zu Problemen kommen. Die Kleinstädte können nicht mehr haargenau so errichtet werden, wie sie einmal waren. Ausbesserungen sind unmöglich, wenn alles kaputt ist.
Doch die ehrenwerten Bauern wollen von ihrem seit Generationen überlieferten Fleckchen Erde nicht weg. Keine Grundbucheintragungen, ja nicht einmal Grenzsteine, kennzeichnen die Raumordnung in diesem unterentwik- kelten Gebiet.
Aber die Menschen besitzen ihren Boden schon sehr lange. Sie würden lieber sterben als ihn aufgeben. Deshalb wollen sie auch, daß alles wieder so wird, wie es einmal war. Alles soll so stehen, wie früher
Doch für diese Probleme hat man noch Zeit. Jetzt suchen die Menschen hier immer noch nach ihren wenigen Sachen. Das Erschütterndste sind vielleicht die Schulhefte, die überall umherliegen. Ein Bub, der unter den Trümmern starb, hatte bei einem Diktat in seiner Volksschulklasse ein „Ausgezeichnet“ ins Heft geschrieben bekommen.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!