Das Fenster der Verwundbarkeit

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Vor kurzem gestalteten Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Seminars zu Dorothee Sölle ein Abendgebet mit Texten von ihr an unserer Fakultät. Sölle hat die Spannung von Mystik und Politik, Kampf und Kontemplation, Tradition und Gegenwart mit radikaler Ehrlichkeit und kämpferischer Sensibilität gelebt. Vor zehn Jahren ist sie gestorben.

Das Thema des Gottesdienstes lautete: "Das Fenster der Verwundbarkeit“. Auf die Texte von Sölle antwortete der Grazer Domorganist Christian Iwan frei an der Orgel. "Was für alle Religionen gilt, dass Transzendenz verwundbar macht, das ist im Christentum auf die Spitze getrieben: Gott macht sich in Christus verwundbar“, schreibt Sölle. Und: "Gott definiert sich in Christus als gewaltfrei. Das männische Ideal der Unverwundbarkeit steht dem Gekreuzigten, der von seinen Freunden als Sohn Gottes erfahren wurde und wird, wie eine Fratze des Lebens gegenüber. Und wenn wir das Gleichnis vom Weltgericht, in dem jedes hungernde Kind Christus ist (Mt 25) richtig verstehen, so können wir sagen: Christus ist die Wunde Gottes in der Welt. Darum brauchen wir ein Fenster der Verwundbarkeit, wenn wir in einer inneren Beziehung zu Christus leben wollen.“

Sölle verbot sich aus Solidarität mit ihrer nach-theistischen Gegenwart und mit Blick auf die fatalen Wirkungen einer allzu selbstsicheren Gottes- und Jenseitsgewissheit jeden naiven Theismus. Sechs Wochen vor ihrem Tod, in einem Gespräch mit Fulbert Steffensky, findet sie für ihren Glauben schließlich die Worte: "Mystische Sätze wie ‚Wo die Liebe ist, da ist Gott‘ bleiben auch im Sterben eines Menschen wahr. Sie werden nicht zunichte. Der Tod kann sie nicht aufheben, muss er nicht vor der Liebe kapitulieren?“

Das kleine Abendgebet endete mit einem Marienlied.

Der Autor ist katholischer Pastoraltheologe an der Universität Graz

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