SCHWERES GEPÄCK

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GEORGES-ARTHUR GOLDSCHMIDTS ERZÄHLUNG IST EINE SCHONUNGSLOSE ERKUNDUNG.

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GEORGES-ARTHUR GOLDSCHMIDTS ERZÄHLUNG IST EINE SCHONUNGSLOSE ERKUNDUNG.

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Er kommt aus einer Welt, "in der man nie die eigenen Koffer trug." Längst aber trägt er sein Gepäck selbst. Und er trägt schwer daran: Arthur Kellerlicht. Der Hamburger aus jüdischem - zum Protestantismus konvertierten - Elternhaus hat den Krieg in den französischen Alpen überlebt, während seine Eltern Opfer der Shoa wurden. Nun ist Arthur achtzehn und trifft mit dem Zug in Paris ein. Im Gepäck rumpelt die Fahrhabe aus acht Jahren Heimleben: alte Unterhosen von ehemaligen Mitschülern, geschenkte Hemden und Broschüren mit Auszügen aus den großen Werken der französischen Literatur, "deren majestätische Prosa in ihm immer den Anblick von Prunksälen mit kannelierten Pilastern entlang der Mauern und bemalten Plafonds entstehen ließ." Der Kofferinhalt verrät so manches über den Besitzer: seine verwirrte Sexualität, seine Liebe zur Literatur.

Themen des eigenen Lebens

Arthur Kellerlicht ist das autofiktionale Double des 1928 in Reinbek bei Hamburg geborenen, in Paris lebenden Autors und Übersetzers Georges-Arthur Goldschmidt. Sein Alter Ego nimmt eine Monopolstellung ein, ob in den französischen (u.a. von Peter Handke übersetzten) Erzählungen oder in der auf Deutsch verfassten Savoyer Trilogie ("Die Absonderung", "Die Aussetzung", "Die Befreiung"). Und nun in der Erzählung "Ein Wiederkommen". Goldschmidt wollte das französische Original, "L'Esprit de retour" (2011), in seine Muttersprache übersetzen; heraus kam ein eigenständiges Werk. Beide Versionen deklinieren seine Lebensthemen: das Drama der Judenverfolgung, die Verlusterfahrungen und Schuldgefühle des Überlebenden, schließlich die Scham ob der (obsessiv bekannten) sündigen Triebe: "Alles hatte immer wieder mit der Herkunft zu tun gehabt."

Die späten 1940er-Jahre bilden den zeitlichen Rahmen der Erzählung. Eine reiche Kusine quartiert Arthur in einem jüdischen Waisenheim bei Pontoise ein, wo er das Abitur abschließt. Rasch durchschaut er die Verlogenheit der Wohltäter, stolz pariert er den Spott der Mitzöglinge. Den quälenden Erinnerungen indes weiß er wenig entgegenzustemmen: 1938 von den Eltern in den Zug gesetzt, gelangte der damals Zehnjährige über Italien nach Savoyen. Dass sein Bruder stets mit an Bord war, verschweigt der Autor. Im savoyischen Internat fand Arthur Schutz vor den Nazis, wurde aber zum Opfer sexuellen Missbrauchs und sadistischer Züchtigungen. Der als "geburtsschuldig" Indoktrinierte reagiert mit perverser Lust an der Strafe - und tröstet sich mit einschlägigen "Bekenntnissen", etwa des prominenten Prügelknaben Jean-Jacques Rousseau.

Schonungslos erkundet Goldschmidt die Wechselwirkung zwischen totalitären Machtstrukturen und masochistischer Disposition. In seinen dunkelsten Fantasien entleibt sich Arthur als "Selbsthaubitze", um dem Mahlstrom aus Schuld, Scham und Schande zu entrinnen. Distanz zu sich und der Welt gewinnt Zögling Kellerlicht (darin ähnelt er Musils Törless) aus übersteigerter Selbstbeobachtung: "Er war ein Zuschauer, der sich aus dem Selbstfenster zuwinkte."

Heimat Paris

Auf "Einladung" seiner Schwester reist Kellerlicht nach Hamburg; er wird auf seine Rechte am Elternhaus verzichten. Das Buch endet wie es begann: Mit einer Zugfahrt. Diesmal rumpeln deutsche Klassiker im Koffer.

Die Heimat liegt für Arthur Kellerlicht fortan in Paris. Sein "Wiederkommen" bedeutet: Selbstfindung und Versöhnung mit der Muttersprache. Arthur schafft den Weg vom Keller ans Licht. Er wird an der Sorbonne Germanistik studieren, den Lehrberuf ergreifen und eine Familie gründen.

Goldschmidt überzeugt durch feinsinnige Gesellschaftskritik, starke Raum- und Ding-Metaphorik und durch seine Kunst, selbst einer impressionistisch flirrenden, idyllischen Natur die Historie einzuschreiben: "Die Landschaft lag da, wie zu allem bereit, in ihr war alles möglich."

Ein Wiederkommen

Erzählung von Georges-Arthur Goldschmidt S. Fischer 2012 190 S., geb., € 19,60

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