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Vor dem Abgrund

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Als im Jahre 1958 in Rom die EWG gegründet und vor allem auf dem Landwirtschaftssektor eine schrittweise Anpassung und Integration der nationalen Landwirtschaften angestrebt wurde, erhofften sich Millionen bäuerlicher Familien in Europa eine bessere Zukunft und eine größere soziale Sicherheit. Spätestens im Jahre 1969, als Tausende belgische Landwirte gegen die EWG-Agrarpolitik demonstrierten und sich gegen die Vorstellungen des damaligen Vizepräsidenten der Gemeinschaft, Sicco Mansholt, aussprachen, wußten auch die Optimisten, daß es zu wenig ist, einen gemeinsamen Agrarmarkt anzustreben, ohne eine Wirtschafts- und Währungsunion zu verwirklichen. Heute steht das „Grüne Europa“ vor dem Abgrund.

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Als im Jahre 1958 in Rom die EWG gegründet und vor allem auf dem Landwirtschaftssektor eine schrittweise Anpassung und Integration der nationalen Landwirtschaften angestrebt wurde, erhofften sich Millionen bäuerlicher Familien in Europa eine bessere Zukunft und eine größere soziale Sicherheit. Spätestens im Jahre 1969, als Tausende belgische Landwirte gegen die EWG-Agrarpolitik demonstrierten und sich gegen die Vorstellungen des damaligen Vizepräsidenten der Gemeinschaft, Sicco Mansholt, aussprachen, wußten auch die Optimisten, daß es zu wenig ist, einen gemeinsamen Agrarmarkt anzustreben, ohne eine Wirtschafts- und Währungsunion zu verwirklichen. Heute steht das „Grüne Europa“ vor dem Abgrund.

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Seit Monaten ringen die EWG-Agrar- und Finanzminister um gemeinsame Zielvorstellungen, wobei die ernsten Mienen, sorgenvolle Statements, emsige Gesprächigkeit im Hintergrund, Nachtsitzungen, hektische Pressekonferenzen im Morgengrauen und sparsame Zuversicht das politische Klima in Brüssel charakterisieren. Die Bauern in der Bundesrepublik, in Frankreich, in Belgien und Italien haben längst die Hoffnung aufgegeben, daß sie ohne Wirtscharts- und Währungsunion einer Agrarpolitik zustimmen können, welche die Eingliederung in die arbeitsteilige Industriegesellschaft erleichtern würde. Die jährlichen Auseinandersetzungen um die Festlegung der Agrarpreise zeugen davon, daß nur noch die Ratsbeschlüsse in der EWG-Metropole, nicht mehr aber deren Auswirkungen „gemeinsam“ sind. Die Rationalisierungstendenzen im Bereiche der Landwirtschaftspolitik sind unverkennbar. Die europäischen Dachverbände der Landwirtschaftsk mern und Genossenschaften sprechen offen von einem Scheitern der europäischen Agrarpolitik, nicht ohne sich trotzdem zu bemühen, eine sinnvolle Reform und Erneuerung der Markt- und Strukturpolitik anzustreben.

Österreich, das jahrelang einem Nahverhältnis zum gemeinsamen Markt nachlief, ist von den jüngsten Vorgängen in der EG arg betroffen. Obwohl im Zusammenhang mit dem Freihandelszonenabkommen auch ein „Agrarbrief“ zwischen Wien und Brüssel vereinbart wurde, mußte Landwirtschaftsminister Weihs vor kurzem zur Kenntnis nehmen, daß die EG nicht bereit ist, grundsätzlich von der verfügten Importsperre für Rinder und Rindfleisch, die vorläufig bis November beschlossen wurde, abzurücken. Für die österreichische Tierzucht war der Italienmarkt in den vergangenen Jahren eine eminent wichtige Lebensquelle. Der gsamte Lebendrinderexport betrug im Jahre 1973 107.200 Stück und hat sich im Jahre 1974, sieht man vom zollbegünstigten GATT-Kontingent in Höhe von 30.000 Stück ab, weiter negativ entwickelt.

Die Bundesregierung ist daher zusammen mit den Landwirtschaftskammern bemüht, den derzeit fehlenden Exportmarkt durch eine großangelegte Inlandsaktion zu ersetzen, wobei monatlich etwa 10.000 Stück Mastrinder ■ zusätzlich vermarktet werden sollen. Rund 170 Millionen Schilling werden dafür aufgewendet, um den Verarbeitungsbetrieben den Kauf eines Maststieres von Exportqualität um 2.50 Schilling pro Kilogramm zu verbilligen. Der Österreicher ist ein großer Fleischverzehrer und verbrauchte 1973 rund 76 Kilogramm pro Kopf, wobei auf das Rindfleisch 20,6 Kilogramm und auf das Schweinefleisch 38,4 Kilogramm entfielen.

Die infolge innergemeinschaftlicher Marktschwierigkeiten von der EG verfügte Importsperre könnte schon gegen Ende dieses Jahres eine Lockerung erfahren, weil sich die Fleischnachfrage in allen westeuropäischen Ländern wieder belebt. Rund 100.000 Tonnen Rindfleisch wurden außerdem von der EG nach Rußland zur Marktentlastung exportiert. Bei allen Hauptfleischarten hat sich im ersten Habljahr 1974 der Konsum gegenüber 1973 um zirka 3 Prozent erhöht, bei Schweinefleisch lagen die Verbrauchszunahmen sogar darüber. Allerdings kam es in den Vereinigten Staaten an der Schwelle 1973/74 zu einem empfindlichen Rückgang des Fleischkonsums. Mit 27,7 Kilogramm aßen die amerikanischen Verbraucher im Jahre 1973 um durchschnittlich 2,9 Kilogramm weniger Schweinefleisch als ein Jahr zuvor.

Die Unsicherheiten auf dem europäischen Rindfleischmarkt haben auch in Österreich zu einer neuerlichen Steigerung der Milchproduktion geführt. Insbesondere in der EG. erwartet man große Absatzschwierigkeiten, die Buttervorräte betragen derzeit etwa 280.000 Tonnen. Für ■ den einzelnen Landwirt werden zuverlässige Marktkenntnisse, welche für eine entsprechende Ausrichtung der Produktion unerläßlich sind, immer schwieriger. So gesehen ist es verständlich, daß in diesen Wochen tausende Bauern in Frankreich und in der Bundesrepublik auf die Barrikaden steigen und sich auf der Straße gegen „eine verfehlte Agrarpolitik“, wie es der Präsident des Deutschen Bauernverbandes, Freiherr von Heeremann, formulierte, Luft machten. Tausende Landwirte forderten in einer großen Protestveranstaltung in München sogar den Rücktritt des ansonsten recht beliebten FDP-Landwirtschaftsministers Ertl, einem Bayer in Bonn.

Die Agrarpolitik steht derzeit auf dem Prüfstand der öffentlichen Meinung. Die sachpolitischen Polarisationen zwischen den staatlichen Behörden und den bäuerlichen Interessensvertretungen ist auch in Österreich in den vergangenen Monaten deutlich spürbar geworden. Während die Landwirtschaft mit ihren Erlösen unzufrieden ist und trotz eines starken Preis-Kosten-Drucks ihre Ernährungs- und Umweltfunktionen erfüllen soll, klagen die Verbraucher über teure Lebensmittelpreise.

Es ist daher eine vordringliche und wichtige Aufgabe, in den kommenden Monaten alles zu unternehmen, durch eine gezielte, längerfristig geplante und vor allem mutige Agrarpolitik die schmal gewordene Brücke zwischen Produzenten und Konsumenten im Interesse aller nicht abbrechen zu lassen. GERHARD POSCHACHER

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