Aktueller Rundumdenker

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Zum 300. Todestag von Gottfried W. Leibniz findet in Wien ein Symposium statt: Nicht nur die Digitalisierung oder "Citizen Science" sind in seinem Werk antizipiert.

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Zum 300. Todestag von Gottfried W. Leibniz findet in Wien ein Symposium statt: Nicht nur die Digitalisierung oder "Citizen Science" sind in seinem Werk antizipiert.

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Während seiner Tätigkeit in Wien in den Jahren 1712-1714 verfasste Gottfried W. Leibniz für Kaiser Karl VI. - der ihn zum "Reichshofrat auf der gelehrten Bank" ernannt hatte -die ersten Entwürfe für eine österreichische "Sozietät der Wissenschaften", die damals noch nicht umgesetzt werden konnten. Prinz Eugen von Savoyen lud Leibniz laufend zu philosophischen Gesprächen ein. Ihm widmete Leibniz 1714, vor seiner Abreise aus Wien, eine Summa seiner Philosophie (dt.: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade).

Technische Entwürfe

Friedrich II. sagte über Leibniz, dass dieser "allein eine ganze Akademie hätte repräsentieren können", da sein Werk auf so gut wie alle Wissensgebiete seiner Zeit Bezug nimmt. Zu Leibniz' innovativen Leistungen gehören technische Entwürfe, grundlegende Beiträge zur Infinitesimalrechnung und zu einer vollkommenen Digitalisierung des Wissens, wie auch Vorschläge zur Friedenssicherung durch eine rechtliche Neuordnung Europas und zu einer Reunion aller christlichen Bekenntnisse. Im Dienst der Herzöge von Hannover wirkte Leibniz als Diplomat und Historiker, und er schuf eine rational durchdachte Neuordnung der Bibliothek in Wolfenbüttel.

Den maßgeblichen Gesichtspunkt seines Wirkens formulierte er im Wahlspruch für die Berliner Akademie: "theoria cum praxi", der zum Ausdruck bringt, dass die Wissenschaften dem Gemeinwohl verpflichtet sein sollen. An dieser Maxime orientiert, sehen Leibniz' Entwürfe für wissenschaftliche Akademien eine fächerübergreifende Kooperation aller Disziplinen sowie die Einbeziehung des praktischen Wissens breiter Bevölkerungskreise vor. Heutige Überlegungen zum Thema "Citizen Science" sind darin antizipiert. Das Spektrum von Leibniz' eigenen Verbesserungsvorschlägen reicht von der Ernährung und Heilkunst bis zur Straßenbeleuchtung in Wien.

Diese vielfältigen Überlegungen haben eine gemeinsame Basis: Leibniz' Metaphysik, die den Anspruch erhebt, alle Teilbereiche unseres Denkens in eine konsistente Gesamtkonzeption zusammenzuführen. Die zentralen Gedanken dieses philosophischen Systems sind in der Schrift "Monadologie" ausgeführt, die Leibniz 1714 in Wien fertig gestellt hat. Den Grundstein seines Denkgebäudes bildet ein philosophischer Begriff von Gott, der im Gedanken der "Harmonie" als "Einheit in der Vielfalt" seine zentrale Bestimmung hat. In diesem Kontext macht Leibniz die individuelle Besonderheit jedes einzelnen Wesens geltend: "Es ist notwendig, dass jede Monade von der anderen verschieden ist. Denn es gibt in der Natur niemals zwei Wesen, die sich vollkommen gleich wären." Mit dem Thema Individualität bringt Leibniz einen Schlüsselbegriff der Moderne zur Sprache, der bis heute zu den wichtigen Kategorien der Verständigung über uns selbst gehört.

Natur und Freiheit

Auch wenn im aktuellen philosophischen Diskurs "postmetaphysische" Zugangsweisen dominieren, kann Leibniz' Denken in vielfacher Hinsicht Gültigkeit beanspruchen. Von besonderer Aktualität ist das in der Monadenlehre ausgeführte Verständnis des Menschen. Leibniz erläutert die Komplexität dieses Themas, indem er festhält: "Es gibt zwei berühmte Labyrinthe, in denen sich die menschliche Vernunft oft verwirrt": Natur und Freiheit. Demnach lautet die zentrale Problemstellung, wie Natur und Freiheit im Menschen immer schon verbunden sind. Daran anknüpfend wird später Kant der Frage nachgehen, wie Freiheit, das heißt: moralisches Handeln, in einer den Naturgesetzen unterworfenen Welt überhaupt möglich ist. Von Relevanz für die heutige Debatte ist, dass Leibniz -von seiner Konzeption der Harmonie her -die Grundlagen eines guten Handelns darin sieht, dass wir uns jeweils in die Position der Anderen zu versetzen suchen: "Der Ort des Anderen ist der wahre Standpunkt sowohl in der Politik als auch in der Moral."

Das kritische Potenzial seines Denkens zeigen vor allem Leibniz' Einsprüche gegen reduktionistische Tendenzen in dem zu seiner Zeit -unter dem Eindruck der Leistungen der Naturwissenschaften -entstehenden wissenschaftlichen Weltbild. Diese gehen davon aus, dass Aussagen nur dann Erkenntniswert beanspruchen können, wenn sie empirisch prüfbar sind. Leibniz' Einwände gegen eine solche Engführung behalten ihre Stringenz auch im Blick auf heutige monokausale Erklärungsansprüche, wie sie in Projekten der "Naturalisierung der Moral" oder der "Neurotheologie" erhoben werden.

Die Untiefen einer reduktionistischen Wissenschaftsauffassung führt Leibniz anhand eines Berichts über eine Gerichtsverhandlung vor Augen: Ein Mann, "der der Religion wenig zugetan war, hat [die] Wahrheit [...] dazu mißbraucht, um in einem kleinen flamländischen Wörterbuche die Theologie und den christlichen Glauben lächerlich zu machen, indem er in boshafter Wendung den Ausdrücken nicht solche Definitionen und Erklärungen gab, wie der Sprachgebrauch es verlangt, sondern wie die ursprüngliche Bedeutung des Wortes es zu fordern schien." Unsere Sprache ist auch dort einer klaren Begrifflichkeit und Argumentation fähig, wo sie sich nicht am naturwissenschaftlichen Exaktheitsanspruch orientiert. Diese Pointe ist auch sprachtheoretisch aktuell, insofern sie die metaphorische Ausdruckskompetenz der Sprache hervorhebt.

Interreligiöser Dialog

Punkto Religion setzte Leibniz sich mit Berichten aus der Jesuiten-Mission in China auseinander. Sein Interesse war darauf gerichtet, wie weit konfuzianische Lehren mit dem Christentum kompatibel sind, dokumentiert in der Schrift "Das Neuste von China" (dt. 1979). In den Begegnungen mit Prinz Eugen kam es darüber sogar zum Streitgespräch: "Der Prinz disputierte gegen die Jesuiten wegen des Cultus Confutii, und ich für sie", berichtet Leibniz in einem Brief. Das Projekt, religiöse Lehren europäisch-westlicher und asiatischer Herkunft mit philosophischen Mitteln neu zu durchdenken, ist heute, bei der Erkundung tragfähiger Grundlagen für interreligiöse und interkulturelle Dialoge, ebenfalls hochaktuell.

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