Aus dem Pensionat in den Tod

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Patrick Modiano sammelte, was vom Leben einer ermordeten 16jährigen noch faßbar war.

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Patrick Modiano sammelte, was vom Leben einer ermordeten 16jährigen noch faßbar war.

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Man schreibt das Jahr 1941. Die Atmosphäre in Paris ist von Ausgangssperren, Polizei und Soldaten in allen Straßen und der beginnenden Registrierung der Juden bestimmt.

Dora Bruder, Tochter jüdischer Eltern, ist zu ihrem Schutz in einen katholischen Mädcheninternat untergebracht. Temperamentvoll und aufmüpfig ist sie, obwohl die Zeiten nicht danach sind. Sie verläßt das schützende Internat "wegen Weglaufens", wird per Inserat von ihren Eltern gesucht und von der Polizei der Mutter übergeben, bis sich schließlich die Spur der für kurze Zeit wieder vereinten Familie in Auschwitz verliert: "Mit sechzehn hatte sie die ganze Welt gegen sich, ohne daß sie wußte warum."

Aus den knappen Fakten, die der französische Autor Patrick Modiano in Archiven und Ämtern fand, baut er kunstvoll eine Collage, die nicht nur das Leben der jungen Dora Bruder in Erinnerung ruft. Mit sprachlicher Präzision und rhythmischer Akzentuierung baut er aus den einzelnen Sequenzen mit Originalzitaten amtlicher Vermerke, Rückblenden zur eigenen Kindheit als 1945 Geborener, Erinnerungen an ermordete Dichter und persönlichen Eindrücken aus der Nachkriegszeit einen Roman, der sich tief einprägt. Dem Freiheitsdrang und der Lebenslust eines jungen Mädchens, die der Autor in warmer, weicher Unschärfe rekonstrukiert, stehen harte Fakten gegenüber: Die Eintragung im Register des Internierungslagers Drancy, das die Überstellung Doras aus dem Lager Les Tourelles bestätigt. Den Bildern vom strengen, geregelten, aber doch schützenden Leben im Pensionat Saint-CÏur-de-Marie folgen Briefe an den Polizeipräfekten von Paris: "Ich bitte untertänig um die Freilassung meines Enkels Michael Rubin, 3 Jahre, Franzose, Sohn einer Französin, mit seiner Mutter in Drancy interniert ..." Oder: "Am 16. Juli um 4 Uhr morgens wurde mein Mann abgeholt, und da meine Tochter weinte, wurde auch sie mitgenommen. Sie ist 14einhalb Jahre und sie ist Französin ..."

Das bis zum letzten Hoffnungsschimmer pulsierende Leben wird von der Kälte, Härte und Grausamkeit des NS-Regimes ausgelöscht. Hinter amtlichen Eintragungen und Stampiglien versteckte Täter, die als scheinbar anonyme Macht Individuen vernichten, werden bei Patrick Mondiano als Menschen erkennbar. Sie machen Doras Rausch, "mit einem Schlag alle Bande zu kappen, ein plötzlicher und freiwilliger Bruch mit der Disziplin, mit dem Pensionat, den Lehrern und Schulkameraden ... mit den Eltern, die es nicht verstanden haben, einen zu lieben" zunichte - diesen Traum, den auch der Autor 20 Jahre später, wie viele Jugendliche zu allen Zeiten, träumt.

Patrick Modiano, der für den deutschen Sprachraum von Peter Handke entdeckt wurde, hat aus den wenigen Mosaiksteinen, die von Dora Bruders Leben noch faßbar waren, ein junges Mädchen in die Erinnerung zurückgeholt. Er hat ihr, ihren Eltern und zufälligen Weggefährten und -gefährtinnen eine Lebensgeschichte geschenkt und damit wenigstens die Erinnerung an sie ins Leben zurückgeholt. Sein Roman ist auch insofern bedrückend, als er die systemimmanente Gefahr des Mißbrauchs von Staatsmacht und Bürokratie deutlich erkennbar macht. Wachsamkeit ist stets, auch heute, angebracht.

Dora Bruder Von Patrick Modiano, Übersetzung: Elisabeth Edl, Carl Hanser Verlag 1998, 152 Seiten, geb., öS 248,-

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