Er verband Immanuel Kants aufklärerischen Impetus mit Jean-Jacques Rousseaus Kritik an der Zivilisation. Zum 250. Geburtstag des Philosophen Johann Gottlieb Fichte.
"Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist. Denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.“
Die Gleichsetzung von Philosophie und Person, die Johann Gottlieb Fichte vornimmt, trifft besonders gut auf seine Persönlichkeit zu. Er legte großen Wert auf eine Lebensführung, die sich nach selbst bestimmten Grundsätzen ausrichtete, die er konsequent - manchmal bis zum Starrsinn - befolgte. Fichte war das Gegenteil des zeitgenössischen postmodernen Philosophen, der kein Prinzip anerkennt und alles relativiert. Für seine selbst gesetzten Prinzipien trat Fichte mit leidenschaftlichem Engagement ein, das oft zu Konflikten mit Behörden, Studenten und Bekannten führte. Er fühlte sich als "Priester der Wahrheit“, der ein nicht zu widerlegendes philosophisches System geschaffen hatte, das kaum verstanden wurde - nicht einmal von seinen philosophischen Kollegen. Der damals arrivierte Kant-Kenner Jens Baggesen schrieb, dass er nahe daran sei, wahnsinnig zu werden, da er nur "Unsinn in den Thesen, Antithesen und Synthesenklaubereien unseres hyperphilosophischen Freundes finde, der das Messer so lange schärfe, bis kein Stahl mehr da sei.“ Fichte ließ sich davon nicht beeindrucken und arbeitete zeit seines Lebens an seiner "Wissenschaftslehre“, die er immer wieder überarbeitete. Als Ausgangspunkt wählte Fichte die berühmt gewordene Formulierung des von ihm hoch verehrten Immanuel Kant, der die Hauptaufgabe der Aufklärung darin sah, dass sich der Mensch aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien sollte. Dies verband Fichte mit der Aufforderung des französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau, die Ketten der korrumpierten Zivilisation abzustreifen. Von diesen Gedanken ausgehend, schuf Fichte sein philosophisches System der "Wissenschaftslehre“, das laut Friedrich Schlegel neben der Französischen Revolution und Goethes Roman "Wilhelm Meister“ zu den bedeutendsten Leistungen der Epoche zählte.
Geboren wurde Johann Gottlieb Fichte am 19. Mai 1762 als Sohn eines armen Handwerkers im sächsischen Dorf Rammenau. Ein Stipendium des Adligen Ernst Haubold von Miltitz ermöglichte ihm den Besuch der angesehenen Lateinschule in Schulpforta. Danach studierte er Theologie und Philosophie in Jena, Wittenberg und Leipzig. Durch den Tod seines Förderers wurde der mittellose Fichte gezwungen, sein Studium abzubrechen und als Hauslehrer längere Zeit in Zürich tätig zu sein. Bereits hier zeigte sich sein reger Widerspruchsgeist, er legte nämlich ein "Tagebuch der auffallendsten Erziehungsfehler“ an, aus dem er den Eltern regelmäßig vorlas, die keineswegs begeistert auf diese Initiative reagierten. Fichte wurde entlassen und kehrte 1790 nach Leipzig zurück, wo er die bahnbrechende Philosophie von Immanuel Kant kennenlernte. Diese Lektüre erschütterte Fichtes bisherige Weltsicht, die davon ausging, dass der Mensch von Trieben, Emotionen und Neigungen beherrscht wird, die sein Handeln deterministisch bestimmen.
In der Kant’schen Gedankenwelt
Kants Überlegungen zur Freiheit des Menschen wiesen jedoch in eine ganz andere Richtung: Sie forderten den Menschen auf, seinem Gewissen zu folgen und moralisch zu handeln, was bedeutete, den Mut zu haben, seine Persönlichkeit zu formen und alle Ketten zu sprengen, die von empirischen Faktoren vorgegeben sind. Dieser Gedanke bildet den Grundstein von Fichtes philosophischen Reflexionen, die er in der "Wissenschaftslehre“ entfaltete und immer wieder überarbeitete. Er lebte so intensiv in der Kant’schen Gedankenwelt, dass sogar seine Publikation "Versuch einer Kritik aller Offenbarung“ dem philosophischen "Alleszermalmer“ aus Königsberg zugeschrieben wurde. Kant korrigierte den Irrtum, und Fichte erlangte dadurch einen hervorragenden Ruf, der 1794 zu einer Professur in Jena führte. Noch im selben Jahr veröffentlichte Fichte die erste Fassung der "Wissenschaftslehre“, die nach der Einschätzung zahlreicher Fachgelehrter eines der anspruchsvollsten Werke der Philosophiegeschichte darstellt. So schreibt Manfred Kühn in seiner umfangreichen, gut lesbaren Fichte Biographie, die im C. H. Beck Verlag erschien: "Seine Darstellung der Wissenschaftslehre ist gekennzeichnet von Konstruktionen, die oft künstlich erscheinen.“
Fichte unterscheidet zwei Grundströmungen der Philosophie, die seit Platon bestimmend sind: Die eine - der Materialismus - geht von der Gegenständlichkeit, von der Materie aus. Für Fichte ist dies ein Irrweg, weil er die Frage nicht beantwortet, wie man von der materiellen Gegebenheit der Welt ausgehend das Selbstbewusstsein des Menschen erklären könne. Allein der Idealismus - in der von Fichte entwickelten Form - vermag dieses Problem zu lösen. In seiner "Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ zeigt Fichte, wie das Ich sich selbst bestimmt oder "setzt“. Das Ich darf jedoch nicht empirisch verstanden werden, als das Ich eines Individuums, sondern als ein "absolutes Ich“, das dem empirischen Ich vorausgeht. "Fichte strebt eine Philosophie aus einem Guss an“, schreibt Helmut Seidel in seiner im Junius Verlag publizierten "Einführung zu Fichte“, "die den gesamten Inhalt des Bewusstseins aus diesem ersten Prinzip ableitet.“
Sittlichkeit statt Sinnlichkeit
Das absolute Ich ist für Fichte keineswegs ein statisches Faktum, sondern es wird als tätiges, freies, selbstständiges Ich vorgestellt, das ständig in Auseinandersetzungen mit den Bereichen des "Nicht-Ich“ verwickelt ist. In der praktischen Philosophie Fichtes, die auf reale Menschen Bezug nimmt, rückt dieses produktive, um Freiheit und Autonomie bemühte empirische Ich in den Mittelpunkt. Das Individuum kann diese Ideale nur erreichen, wenn es lernt, die sinnlichen Triebe, die ständig auf den Menschen einwirken, zu beherrschen. Die Sinnlichkeit degradiere das nach Freiheit strebende Individuum, so lautete der Vorwurf Fichtes, es befördere niedere Leidenschaften und vernachlässige die höhere Reflexion. Dagegen setzte er den sittlichen Trieb, der sich durch Arbeitseifer, Mäßigung der Leidenschaften und ein moralisches Leben auszeichnet. "Mache dich frei und werde autonom!“ - so lautete der kategorische Imperativ Fichtes. Nur ein Leben in selbst erkämpfter Autonomie sei ein Leben, das es lohne, gelebt zu werden, meinte der Philosoph, ein Leben, das auch eine tiefgehende Zufriedenheit mit sich selbst bedinge.
Ihm war diese Zufriedenheit erst im letzten Lebensabschnitt vergönnt, bevor er am 29. Januar 1814 an den Folgen einer Typhuserkrankung starb: "Alle meine Fragen sind gelöst“, schrieb Fichte, "ich weiß, was ich wissen kann, und ich bin ohne Sorge über das, was ich nicht wissen kann. Ich bin befriedigt; es ist vollkommene Übereinstimmung und Klarheit in meinem Geiste, und eine neue herrliche Existenz desselben beginnt.“