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Digital In Arbeit

Nicht bloße Dialektik

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Steiners Hauptwerk „Philosophie der Freiheit“ hat eine lange Entstehungsgeschichte, die hier in groben Zügen skizziert werden soll.

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Steiners Hauptwerk „Philosophie der Freiheit“ hat eine lange Entstehungsgeschichte, die hier in groben Zügen skizziert werden soll.

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Der Schwerpunkt der Weimarer Jahre Rudolf Steiners (1890 bis 1897) liegt auf dem Gebiet der Philosophie und hier insbesondere der Erkenntnistheorie. Erwacht war Steiners Interesse an der Philosophie bereits während der Schulzeit. Nach ersten Kant-Studien wandte er sich Fichte zu. In seiner Autobiographie „Mein Lebensgang“ berichtet Steiner im dritten Kapitel rückblickend auf sein 18. Lebensjahr: „Mein erster Besuch in Wien nach Ankunft in In- zersdorf wurde dazu benützt, mir eine größere Anzahl von philosophischen Büchern zu kaufen. Dasjenige, dem nun meine besondere Liebe sich zuwandte, war der erste Entwurf von Fichtes,Wissenschaftslehre1. Ich hatte es mit meiner Kantlektüre so weit gebracht, daß ich mir eine, wenn auch unreife Vorstellung von dem Schritte machen konnte, den Fichte über Kant hinaus tun wollte.“ Und so begann Steiner „Seite für Seite“ Fichtes Wissenschaftslehre umzuschreiben, eine Arbeit, von der leider nur wenige Manuskriptseiten erhalten geblieben sind.

Angeregt durch die Auseinandersetzung mit mathematischen Problemen während seines Studiums beschäftigte sich der junge Steiner zunehmend mit der Raum-Zeit-Frage, die sein gesamtes Schaffen wie ein Leitfaden durchzieht. Eine erste Ausarbeitung dieser Thematik erfolgte im Jahre 1882 und trug den Titel „Einzig mögliche Kritik der atomisti- schen Begriffe“. Dort heißt es unter anderem „Der Begriff und das Gesetz sind immer etwas Allgemeines, das sinnliche Objekt etwas Besonderes; die ersteren können nur gedacht, das letztere nur angeschaut werden. Die Medien, durch welche das Allgemeine uns als Besonderes erscheint, sind Raum und Zeit.“ Welche Bedeutung Steiner selbst dieser Arbeit beimaß, wird zum Beispiel an folgender Äußerung vom 12. Mai 1917 in Stuttgart deutlich: „Es war der erste Anfang von dem, was ich als Geistesforschung bezeichnen möchte.“

Im Jahre 1886 erscheint dann das erste philosophische Werk aus der Feder Rudolf Steiners unter dem Titel „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“. Bereits diese Schrift hätte den Untertitel tragen können, den Steiner dann 1892 für seine Schrift „Wahrheit und Wissenschaft“ wählte: Vorspiel einer Philosophie der Freiheit. Denn schon hier entwickelt Steiner einen Freiheitsbegriff, hervorgehend aus einer von ihm dort dargelegten Erkenntnistheorie, die „keinen anderen Grund der Wahrheiten anerkennt, als den in ihnen liegenden Gedankeninhalt“. Hieraus, folgert er dann in bezug auf das’ menschliche Handeln: „Der Antrieb zum Handeln liegt nicht außer, sondern in uns.“

Aus einer ähnlichen Erkenntnishaltung formuliert Steiner zwei Jahre später in seinem Aufsatz „Papsttum und Liberalismus“ den folgenden „Grundsatz“, der sein eigenes Denken und Handeln prägen wird: „Nur das für wahr halten, wozu uns unser eigenes Denken zwingt, nur in solchen gesellschaftlichen und staatlichen Formen sich bewegen, die wir uns selbst geben, das ist der große Grundsatz der Zeit.“

VERSTÄNDNIS FÜR DAS LEBEN

Steiners Rückblick auf jene Weimarer Zeit enthält eine Reihe von Anhaltspunkten, die einen Zusammenhang mit seiner Korrespondenz mit Rosa Mayreder (siehe Seite 10) nahelegen. Wesentlicher aber ist das eigentliche Inhaltliche, das er dort zum Ausdruck bringt und das für ein Verstehen seiner Erkenntnisart von höher Bedeutung ist: „Das Erfahren von dem, was in der geistigen Welt erlebt werden kann, war mir immer eine Selbstverständlichkeit; das wahrnehmende Erfassen der Sinneswelt bot mir die größten Schwierigkei ten… Das änderte sich völlig vom Beginne des sechsunddreißigsten Lebensjahres … Eine vorher nicht vorhandene Aufmerksamkeit für das Sinnlich-Wahrnehmbare erwachte in mir … Das warf aber auch sein Licht auf die Welt des Geistes zurück. Denn indem die Sinneswelt im sinnlichen Wahmehmen selbst ihr Wesen enthüllte, war für das Erkennen der Gegenpol da, um das Geistige in seiner vollen Eigenart, unvermischt mit dem Sinnlichen, zu würdigen.“

Nachdem Steiner nun noch ein wenig dabei verweilte, die Unterschiede im Erfassen der geistigen und physischen Welt zu charakterisieren, kommt er zu folgendem Resümee: „So waren damals die geistige und die sinnenfällige Welt in ihrer vollen Gegensätzlichkeit mir vor die Seele getreten. Aber ich empfand den Gegensatz nicht als etwas, das durch irgendwelche philosophische Gedanken - etwa zu einem ,Monismus1 — ausgleichend geführt werden müßte. Ich empfand vielmehr, daß ganz voll mit der Seele in diesem Gegensatz drinnen stehen, gleichbedeutend ist mit ,Verständnis für das Leben haben1. Wo die Gegensätze als ausgeglichen erlebt werden, da herrscht das Lebenslose, das Tote. Wo Leben ist, da wirkt der unausgeglichene Gegensatz; und das Leben selbst ist die fortdauernde Überwindung, aber zugleich Neuschöpfung von Gegensätzen.“

Walter Kugler

ist Leiter des Rudolf-Steiner-Archivs in Dörnach.

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