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Die Annäherung der katholischen Kirche an den großen Philosophen.

Bis tief ins 20. Jahrhundert hinein stand die Auseinandersetzung des Katholizismus mit der Philosophie Immanuel Kants unter keinem guten Stern. Ohne dass auch nur eines der Werke Kants gelesen werden brauchte, wusste man katholischerseits, dass man es mit einem Hauptexponenten des neuzeitlichen Denkens zu tun hatte. Mit der Neuzeit jedoch stand man Ende des 18. Jahrhunderts bereits seit längerem auf keinem guten Fuß. Obwohl es nicht wenige katholische Intellektuelle gegeben hatte, die für die Entwicklung der Neuzeit positive Impulsgeber gewesen waren - unter ihnen befanden sich zahlreiche Geistliche, aber ebenso Denker, denen der Glaube persönlich viel bedeutete -, setzte spätestens seit dem 17. Jahrhundert ein gegenseitiger Entfremdungsprozess ein, der immer irreversibler wurde. Was speziell die Philosophie anbelangt, so implizierte dies: Katholischerseits klammerte man sich entweder an die "Philosophie der Vorzeit", sprich an die Scholastik des Mittelalters und des Barock, oder man gab sich einem beliebigen Eklektizismus hin, der seltsame Blüten trieb. Jedenfalls war man zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Kant nicht vorbereitet.

Dazu kam, dass vor allem die Moralphilosophie Kants von vielen zeitgenössischen Intellektuellen - nicht nur katholischen - in einen engen Zusammenhang mit der Französischen Revolution gebracht wurde. Diese jedoch stellte sowohl für die Kirche als auch für alle katholisch dominierten Gesellschaftskreise Europas ein wahres Trauma dar, das über Jahrzehnte anhalten sollte und anstelle von aufarbeitender Selbsterkenntnis kaum etwas anderes als Selbstisolierung und Apologetik zuließ. So überrascht es kaum, dass das Denken Kants für einen großen Teil des herrschenden Katholizismus nur dies bedeuten konnte: Eine Zersetzung des katholischen Weltbildes, einen Angriff auf alles, was der Kirche lieb und teuer war, eine verspätete, aber absehbare Ausgeburt des Protestantismus und damit einen titanenhaften Aufstand gegen Gott selbst, der den Menschen zum Maß aller Dinge macht.

Front gegen die Neuzeit

Der Gerechtigkeit halber muss gesagt werden, dass es von Anfang an auch katholische Philosophen und Theologen gab, die Kant zumindest einiges abgewinnen konnten. Nicht wenige schlossen sich ihm indirekt an, indem sie sich mit dem Idealismus Fichtes, Schellings und Hegels arrangierten, mit jener Philosophie also, die den Anspruch erhoben hatte, die Kantsche Philosophie gleichzeitig zu überwinden und zu ihrer Vollendung zu führen. Ganz vereinzelt wurden sogar Stimmen laut, die eine Vermittlung der Philosophien von Kant einerseits und den Scholastikern des 13./14. Jahrhunderts andererseits für möglich hielten. Die offizielle Kirche jedoch reagierte ausschließlich ablehnend. Die Werke Kants landeten auf dem Index der für Katholiken verbotenen Bücher. Theologen, die sich zu nahe an Kant heranwagten, wie Georg Hermes (1775-1831) im Rheinland oder Anton Günther (1783-1863) in Wien, wurden in päpstlichen Verlautbarungen sowie in Konzilsdokumenten offiziell verurteilt. Mit ihnen kam konsequenterweise auch vieles von dem, was Kant wichtig war, unter Verdikt. Geistig setzte man auf die so genannte Neuscholastik, ein am Hochmittelalter orientiertes Denken, das zunächst rein apologetische Absichten verfolgte. Papst Leo XIII. erhob 1879 in der Enzyklika Aeterni Patris den hl. Thomas von Aquin (1225-1274) zu jenem Lehrer, mit dem sich die Kirche am meisten identifiziere.

Autonomie oder Religion?

Kant stellte freilich nicht nur das katholische, sondern auch jedes andere religiös inspirierte Denken vor ein objektives Problem. Dieses Problem ergab sich aus seiner Definition von Freiheit, die er im Unterschied zur Tradition über die Autonomie, d.h. die reine Selbstbestimmung des Menschen führte. Autonomie wurde in der Folge für ihn nicht nur ein Synonym für die Personalität des Menschen, sondern ebenso der Maßstab alles Ethischen. Was nicht der Autonomie entsprang, galt ihm als ethisch nicht qualifiziert, sondern als heteronom bestimmt (von einer anderen Instanz aufgedrängt bzw. aufgezwungen) und somit als unfrei. Für jede religiöse Ethik eine fatale Konsequenz, denn was sollte aus einem Handeln werden, das die Gebote Gottes befolgte? Musste es nicht als unsittlich angesehen werden? Lag hier nicht der klassische Fall für eine Bestimmung aus Heteronomie vor? Konnte schließlich ein Gläubiger noch als Person angesehen werden, so lange er sich nicht (autonom) an sich selbst, sondern (heteronom) an Gott orientierte? Angesichts dieser Fragen war es nahezu unvermeidlich, ethisch einen radikalen Gegensatz zwischen Autonomie und Theonomie und anthropologisch einen ebenso radikalen Gegensatz zwischen der Kantschen Rede vom Menschen als Person und der biblischen Rede vom Menschen als Abbild Gottes zu konstatieren.

Dieser Konflikt, der die Theologie bis zum heutigen Tage beschäftigt - man denke etwa an die noch nicht lange zurück liegenden Auseinandersetzungen um die so genannte "autonome Moral" innerhalb der katholischen Moraltheologie -, sollte sich erst ein Jahrhundert nach Kant zu lösen beginnen. Für den Katholizismus waren hiefür im Wesentlichen vier Einsichten ausschlaggebend:

Eine erste ist mit der Dialogphilosophie und hier mit den Namen Ferdinand Ebner (1882- 1931) und Martin Buber (1878- 1965) verbunden. Sie machte deutlich, dass menschliche Freiheit nur in der Beziehung zwischen Personen (einem Ich und einem Du) entsteht, also niemals für sich selbst. Im Vokabular Kants: Autonomie ist immer in Heteronomie eingebettet. Anders gibt es sie nicht. Ist nun ein solches Du, in Bezug auf das personale Freiheit entsteht, Gott, so müssen auch Autonomie und Theonomie keine Gegensätze mehr bilden.

Eine zweite Einsicht verdankte das katholische Denken der Wertphilosophie Max Schelers (1874- 1928), der sich von Kants ethischem Formalismus zu einer materialen Wertethik hinwandte und dabei die fundamentale Bedeutung von Vorbildern für sittliches Verhalten analysierte. Wiederum wurde deutlich, dass der unbedingte Gegensatz von Autonomie und Heteronomie im Hinblick auf die ethische Qualifikation des Handelns nicht stimmen konnte. Sich an einem Vorbild orientieren begründet eine ethische Qualifikation nicht weniger als die reine Selbstbestimmung. Keine Frage, dass für eine theologische Ethik, die ihren tiefsten Ausdruck in der Nachfolge (imitatio Christi) bzw. im Abbildwerden (imago Dei) findet, diese Einsicht ausschlaggebend ist.

Ein dritter Schritt ist mit den Transzendentalphilosophien des französischen Philosophen Maurice Blondel (1861-1949) und des belgischen Jesuiten Joseph Maréchal (1878-1944) verbunden. Jeder von ihnen vermochte auf seine Weise zu zeigen, dass mit nichts anderem als mit Kants transzendentaler Methode Gott selbst als Bedingung der Möglichkeit menschlichen Erkennens und Handelns eruiert werden kann. Der Mensch gründet dieser philosophischen Analyse zufolge somit nicht in sich selbst, sondern in der Transzendenz. Dieses Ergebnis implizierte nicht bloß einen Brückenschlag zwischen Kant und der katholischen Tradition, sondern zugleich eine neue Begründung der menschlichen Freiheit.

Glaube an den Menschen

Diesen - vierten - Schritt sollte in aller Konsequenz freilich erst die (transzendentale) Theologie Karl Rahners (1904-1984) vollziehen. Wie schon Blondel sah er nicht nur Gott an sich, sondern den sich dem Menschen zuwendenden und offenbarenden Gott als Bedingung der Möglichkeit alles Menschseins. Dadurch gelangte er zu der nicht nur für katholische, sondern sicherlich auch für kantianische Ohren unerhörte These: Der Wille Gottes ist die Selbstbestimmung des Menschen. Theonomie ist Autonomie. Es gibt nicht nur keinen Widerspruch zwischen dem, was Gott vom Menschen will, und dem, was diesem aufgetragen ist, nämlich sich selbst zu bestimmen - es ist vielmehr ein und dasselbe.

So steht am Ende der geschilderten Geschichte ein Paradox: In den heute angebrochenen Zeiten der Postmoderne, in denen die Rede vom Tod des Menschen umgeht, in denen jedenfalls die Vorstellung von der wirklichen Freiheit des Menschen relativ zu werden scheint, teilen die ursprünglich konträren Anliegen Kants und des Christentums dasselbe Schicksal. Gemeinsam stehen sie auf dem Prüfstand, liegt ihnen doch gemeinsam ein Glaube an den Menschen - wenngleich aus unterschiedlichen Motiven - zugrunde.

Der Autor ist Rektor und Professor für Christliche Philosophie an der Universität Salzburg.

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