Ein Denker ZWISCHEN DEN STÜHLEN

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Zum Kant-Kongress in Wien: Wie hätte sich der Philosoph in heutigen Debatten, von der Flüchtlingskrise bis zur Willensfreiheit, verhalten?

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Zum Kant-Kongress in Wien: Wie hätte sich der Philosoph in heutigen Debatten, von der Flüchtlingskrise bis zur Willensfreiheit, verhalten?

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Sein Name ist in der Philosophie eine global bewährte Marke, und die hat offensichtlich auch heute noch große Anziehungskraft: Rund 600 Forscher aus aller Welt werden diese Woche beim Internationalen Kant-Kongress in Wien erwartet. Im Jahr des 650-jährigen Jubiläums der Universität Wien ist es der Philosophie-Professorin Violetta Waibel gelungen, den zwölften Kongress der Kant-Gesellschaft nach Österreich zu holen - hierzulande die größte philosophische Veranstaltung seit dem Weltkongress der Philosophie im Jahr 1968 in Wien. Das große Thema der aktuellen Versammlung, "Natur und Freiheit", ist geschickt gewählt: In dieses umkämpfte Spannungsfeld hineinzugehen, führt zu wichtigen Motiven des Kantischen Denkens, aber auch zu höchst aktuellen Debatten an der Schnittstelle von Philosophie und Hirnforschung, Natur- und Geisteswissenschaft.

Mit seinem vielseitigen Werk wird der Preuße aus dem alten Königsberg am Ursprung der modernen Philosophie verortet: Der Aufklärung verpflichtet, hat er nicht nur die Erkenntnistheorie geprägt, sondern auch viel beachtete Schriften zur Religions-, Rechts- und Geschichtsphilosophie hinterlassen. Mit "Kritik der praktischen Vernunft" hat er ein Grundlagenwerk der Ethik geschaffen, und mit "Kritik der Urteilskraft" zur Theorie der Ästhetik beigetragen.

Nährboden für Menschenrechte

Seine Gedanken lieferten einen Nährboden für die ideelle Begründung des Völkerrechts und der UN-Menschenrechte. Und angesichts der europäischen Flüchtlingsproblematik scheint der Philosoph, der bereits im Jahr 1763 die "Rechte der Menschheit" herzustellen trachtete, nun auch hier wieder ungeahnte Aktualität zu erlangen. "Dass die Berufung auf Menschenrechte leicht ist, die Einlösung ihres universalen Anspruchs aber eine besondere Herausforderung, kann man bereits von Kant lernen", bemerkt Rudolf Langthaler vom Institut für Christliche Philosophie der Uni Wien. "Wenn die Themen Menschenrechte und Menschenwürde nicht zum Stoff von Sonntagsreden verkommen sollen, bedeutet dieses Recht eben auch die verbürgte Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen. Die Anerkennung von Menschenrechten gewissermaßen nur dann, 'wenn es sich ausgeht', 'zu unseren Konditionen' und nach Maßgabe nationaler Interessen, ist ein Widerspruch in sich." Kant sprach von der einen - umfassenden -Menschheit: eine Idee, die mit dem Gedanken geschuldeter Solidarität einhergeht.

Was der Königsberger Denker angesichts des "Rendezvous mit der Realität" (© Sebastian Kurz) heute konkret vorgeschlagen hätte, muss offen bleiben -dass er konsequent für die Umsetzung seiner moralischen Maßstäbe plädiert hat, ist jedenfalls unbestritten. Wer in seinen Texten stöbert, stößt auf hohe Ansprüche der Mitmenschlichkeit: "Die Pflicht, mit andern wegen ihrer Unterdrückung gemeinschaftliche Sache zu machen, ist mehr als bloß gütige Pflicht", heißt es da, oder auch: "Verdient unter solchen Umständen der Beistand, den der Reiche den Notleidenden erweisen mag, wohl überhaupt den Nahmen der Wohltätigkeit, mit welcher man sich so gern als Verdienst brüstet?"

Natur und Freiheit

Aber zurück zur eigentlichen Front des Kant-Kongresses, der Behauptung der Freiheit in einem zunehmend naturwissenschaftlich geprägten Weltbild. Komplexer und unklarer als für die Aufklärer des 18. Jahrhundert erscheint heute die Frage, wie sehr der Mensch nicht nur von der Natur beherrscht wird, sondern überhaupt Natur ist - und wie weit er tatsächlich in Freiheit handelt. Die Beobachtung, dass unserem bewussten Erleben unbewusste Prozesse in den Nervenzellen des Gehirns um einige hundert Millisekunden vorangehen, hat manche Hirnforscher dazu animiert, die Willensfreiheit des Menschen zu relativieren oder gar in Abrede zu stellen. Hätte ihnen Kant die Leviten gelesen? In seinen Schriften, so Rudolf Langthaler, findet sich jedenfalls ein ganzes Repertoire an Argumenten, mit der einer solchen Auffassung entgegengetreten werden kann (siehe auch Interview rechts).

Die Spuren des Philosophen in der Weltliteratur sind, neben seinem Einfluss auf den Wiener Kreis und die philosophische Strömung der Phänomenologie, ein Schwerpunkt das Kongresses. Bis heute haben zahlreiche Dichter und Schriftsteller seine Ideen verarbeitet -darunter Jean Paul und Thomas de Quincey, Umberto Eco und Thomas Bernhard, Ingeborg Bachmann und Daniel Kehlmann. Wie die Kongressleiterin Veronika Waibel im "Lesebuch" zur begleitenden Kant-Ausstellung an der Uni Wien (siehe unten) festhält, sind diese Ideen "affirmierend, kritisierend, überbietend oder bis zur Unkenntlichkeit verändernd" in die literarischen Werke eingeflossen.

Auch Kants ästhetische Überlegungen finden zuletzt wieder verstärkten Widerhall, und diese stehen in enger Verflechtung mit der Wissenschaftstheorie: Wenn man beherzigt, dass jede Erkenntnis mit einer Sinneswahrnehmung (aisthesis) anhebt, dann findet sich in Kants Begriff der "Ästhetik" auch eine philosophische Grundlegung der Naturwissenschaften, und somit etwa auch das Fundament der modernen Medizin, wie der Wiener Philosoph Martin Poltrum in seiner ästhetisch orientierten "Klinischen Philosophie" unlängst dargelegt hat.

Ermutigung für Zeitgenossen

Dem preußischen Gelehrten wurde wiederholt ein rationaler Rigorismus oder auch eine "unmenschliche Verbannung edler Gefühle" (Schiller) vorgeworfen. Gern wird ihm auch ein schruliger Lebensstil nachgesagt: Gegen Ende seines Lebens soll er darauf bestanden haben, täglich zur gleichen Zeit einen Spaziergang zu machen. Dennoch hätte der Denker, der Königsberg zeit seines Lebens kaum verlassen hat, auch heute eine gute Figur gemacht. Denn er verstand es, seine Gedanken in einprägsamen Botschaften zu verdichten. Was hätte er uns in der Hektik des heutigen Alltags, umtost von Werbung und Infotainment, denn mitgegeben? Wohl das edle Destillat des kategorischen Imperativs auf (Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte), oder auch seine formelhafte Verdichtung der Aufklärung: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen." In Zeiten wie diesen ist dies tatsächlich brandaktuell.

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