"Kernfragen unserer Existenz"

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Kants Ideenwelt ist für die heutige Hirnforschung ebenso relevant wie für die moderne Theologie: Philosoph Rudolf langthaler über die anhaltende aktualität des Denkers aus dem alten Königsberg.

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Kants Ideenwelt ist für die heutige Hirnforschung ebenso relevant wie für die moderne Theologie: Philosoph Rudolf langthaler über die anhaltende aktualität des Denkers aus dem alten Königsberg.

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Beim Internationalen Kant-Kongress in Wien sprach Rudolf Langthaler über die Kantischen Variationen des "Vernunftglaubens". Aber welche Rolle spielt Kant heute generell für Wissenschaft und Religion? Die FURCHE bat den Philosophen und Theologen zum weiterführenden Gespräch.

Die Furche: Was hat uns Immanuel Kant heute noch zu sagen?

Rudolf Langthaler: Er ist durchaus ein Philosoph des 21. Jahrhunderts und nicht nur von antiquarischem Interesse. Kant hat vom "Schulbegriff" einen "Weltbegriff der Philosophie" unterschieden. Dieser "Weltbegriff" thematisiert Kernfragen der menschlichen Existenz, die deshalb auch "jedermann notwendig interessieren". Letztlich geht es hier um die Selbstvergewisserung "Was ist der Mensch?" Das wird auch in Kants berühmten Fragen: "Was kann ich wissen?" "Was soll ich tun?" und "Was darf ich hoffen?" entfaltet. In der zweiten Frage geht es auch darum, ob der Mensch noch mehr ist als eine Marionette seiner biologischen Verfassung. Heute wird mit Blick auf die Neurowissenschaften vor allem gefragt, ob der Mensch nicht durch die neuronale Organisation des Gehirns in seinem "Verhalten" durchgehend determiniert ist.

Die Furche: Die Frage der Willensfreiheit wird aber auch in der Hirnforschung kontrovers diskutiert...

Langthaler: Manche renommierte Hirnforscher betonen bekanntlich, dass die Freiheit bloß ein gutes Gefühl ist und die vermeintliche Entscheidungsfreiheit eine bloß evolutionär bedingte, "nachträgliche" Illusion darstellt, während wir in Wahrheit durch ungeheuer komplexe neuronale Verschaltungen in der Organisation des Gehirns festgelegt sind.

Die Furche: Was würde wohl Kant dieser modernen Auffassung vom Impulsgesteuerten Menschen entgegenhalten?

Langthaler: Zweifellos ist der Mensch als "Weltwesen" auch nach Kant ein naturhaft bedingtes und abhängiges Wesen. Bezüglich der modernen Einwände würde er aber wohl vieles zu bedenken geben, darunter letztlich auch dies: Wenn der die Willensfreiheit negierende Hirnforscher sich für seine Thesen auf Experimente beruft - dann ist doch schon für ihre Durchführung vorausgesetzt, dass er sich dabei handelnd an logische Regeln hält. Das heißt er muss Freiheit immer schon voraussetzen.

Die Furche: Wie lässt sich Kants dritte Frage aktualisieren: Was dürfen wir hoffen?

Langthaler: Das bezieht sich zunächst einmal auf die Entwicklung der menschlichen Kultur, vor allem auf Politik und Rechtsverhältnisse: Nach welchen Kriterien kann sich denn die Frage ausweisen lassen, "ob das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren sei?" Seine rechtsphilosophischen Überlegungen haben wesentliche Aspekte der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" durch die UNO, aber auch die moderne Entwicklung der Idee des Völkerrechts maßgeblich beeinflusst. Von der politischen Dimension bleibt aber der religionsphilosophische Gehalt dieser Frage genau zu unterscheiden.

Die Furche: Wie hat es Kant selbst mit der Religion gehalten?

Langthaler: Durchaus positiv: Er hat die Religion nicht nur als "Vernunftsache" gewürdigt und sie so davor bewahrt, dass sie zu einer irrationalen Angelegenheit verkommt oder etwa auf eine bloße Gefühlsangelegenheit reduziert wird. Mit Blick auf die existenzielle Frage nach einem gelungenen Leben - das nicht nur akzeptiert, sondern auch insgesamt als sinnvoll bejaht werden kann - hat noch der alte Kant betont: "Es ist unmöglich, dass ein Mensch ohne Religion seines Lebens froh werden könne".

Die Furche: Kants Begriff des "Vernunftglaubens" klingt heute womöglich ähnlich attraktiv wie das Wort "Vernunftehe". Was war damals damit gemeint?

Langthaler: Seine "Kritik" verwirft sowohl die Ansprüche der traditionellen Gottesbeweise als auch diejenigen eines im Namen der modernen Wissenschaft auftretenden Atheismus als buchstäblich "vermessen": Denn beide Lager, so Kant, verkennen "das Längenmaß der Kräfte der menschlichen Vernunft". Wie trotzdem die Gottesfrage vernünftig dargelegt und bejaht werden kann, ist Thema seiner Religionsphilosophie. Allerdings lehnt Kant es ausdrücklich ab, die Gottesthematik für die Begründung von Recht und Moral zu "strapazieren", weil das der "Autonomie der Vernunft" widerspricht. Freilich: Auch dem Atheisten mutet er die Perspektive zu, sein Leben so zu führen, als ob er einmal Rechenschaft dafür ablegen müsste. Das ist keine Drohbotschaft, sondern heißt lediglich, dass unser bewusstes Leben kein bloßes Spielchen ist -sondern wir leben müssen, "als ob" uns einst ein Spiegel vorgehalten wird.

Die Furche: In der katholischen Kirche war Kants Schrift "Kritik der reinen Vernunft" seit 1827 auf dem Index der verbotenen Bücher, der erst im Jahr 1965/66 abgeschafft wurde. Wie wird Kant heute von katholischer Seite wahrgenommen?

Langthaler: Das Spektrum reicht von einer nach wie vor ablehnenden Haltung über "zögerliche" Öffnung bis hin zur selbstverständlichen Rezeption, wie dies in modernen Strömungen der katholischen Theologie zu beobachten ist. Man sieht nun doch mit zunehmend klarem Blick, was von Kant auch für die Kernthemen der Theologie zu gewinnen ist. Wenn man nicht gegenüber der Moderne, gegenüber Wissenschaft und Aufklärung ins Hintertreffen geraten will, dann ist Kant ein wichtiger Verbündeter.

Die Furche: Welchen Wert hat Kant umgekehrt für die moderne Naturwissenschaft?

Langthaler: Natürlich ist Kant ein Kind seiner Zeit. Er hat jedoch die Entwicklungen der modernen Wissenschaften, besonders der Astronomie, Physik und Biologie intensiv verfolgt. Für sein Naturverständnis war deshalb weithin die Newtonsche Mechanik der Maßstab - und bekanntlich hat sich das physikalische Weltbild seit dem 18. Jahrhundert stark verändert. Aber gerade die Naturwissenschaft und eine kritische Wissenschaftstheorie kann nach wie vor viel von Kant lernen. Nicht zuletzt auch dies, dass eine "aufgeklärte Denkungsart" nicht mit einem "wissenschaftsgläubigen" Unglauben zu verwechseln ist. Da gibt es übrigens bemerkenswerte Bezüge zum Denken des berühmten österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein.

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