Werbung
Werbung
Werbung

Zu seinem 200. Todestag hat Immanuel Kant (1724-1804) mehr Zukunft als Vergangenheit. Sein Denken steht für Verantwortung und Rationalität, für Aufklärung und kritische Religiosität. Das Furche-Dossier räumt auf mit den Klischees vom pedantischen, mieselsüchtigen Philosophen, zeigt die Aktualität seines politischen Denkens und sichtet die Bücherflut zum Jubiläumsjahr. Der Bochumer Kant-Experte Manfred Geier steht Rede und Antwort. Heinrich Schmidinger beleuchtet das schwierige Verhältnis des Katholizismus zu Kant. Redaktion: Cornelius Hell Die Aktualität Kants nach dem postmodernen Theorientaumel.

Die Philosophie von Immanuel Kant hat wieder Konjunktur. Er, der als Inbegriff des abstrakten, formalistischen Denkens galt, das noch dazu in einer schwer zugänglichen Terminologie abgefasst wurde, avanciert plötzlich zum Strahlemann der gegenwärtigen Philosophie. Vorbei sind die Zeiten eines postmodernen Theorientaumels. Angesichts der Globalisierung, des wachsenden religiösen Fundamentalismus und der sozialen Verteilungskämpfe ist ein Denker gefragt, der die Verantwortung des Einzelnen für die gesamte Menschheit besonders akzentuiert. Kants Denken wird als ein Versuch verstanden - so der Berliner Philosoph Volker Gerhardt - "in der eigenen Leistung einen Beitrag zur menschlichen Kultur und damit zur Bedingung seines eigenen Daseins erkennen zu können".

Verantwortung des Einzelnen

Dabei war Kant keineswegs naiv. Er glaubte nicht an Jean-Jacques Rousseaus Vorstellung vom edlen Menschen, der bloß von einer dekadenten Gesellschaft verdorben wurde. In seiner Schrift "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" formulierte Kant die Überzeugung, dass menschliches Handeln "auf der großen Weltbühne schon immer aus Torheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt sei". Weil eben "der Mensch aus krummen Holz gemacht sei", meinte Kant, müsse man immer die Destruktionssehnsucht und Aggressionsbereitschaft der Menschen im Auge behalten. Fundamentalistischer Terror von Al-Kaida und der Irakkrieg illustrieren in erschreckender Deutlichkeit diese Thesen Kants.

Kants Rezept gegen Dogmatismus, Fanatismus und Autoritätsgläubigkeit lautet: Selbstdenken. Kant traute dem Individuum durchaus zu, sich aus ideologischen oder religiösen Zwängen zu befreien - allerdings bedarf es dafür eines persönlichen Engagements. Diesen Mut, "sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen", sah Kant als Projekt seiner Philosophie, die er als Aufklärung bezeichnet: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", so lautet die berühmte Definition, an die er die Forderung knüpfte: "Sapere aude. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen."

Für Kant selbst ergab sich schon in frühen Jugendjahren die Notwendigkeit, sich auf eigene Füße zu stellen. Er wurde als Sohn eines streng pietistischen Riemermeisters am 22. April 1724 in Königsberg in ärmlichen Verhältnissen geboren. Schon früh verlor er seine Eltern und war auf sich angewiesen. "Ich habe meine Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will", bekannte der junge, selbstbewusste Kant. Seine berufliche Laufbahn begann er als Hauslehrer in verschiedenen ostpreußischen Kleinstädten, veröffentlichte erste philosophische Schriften und erlangte 1755 die Privatdozentur an der Universität in Königsberg. Die folgenden Jahre zeichneten sich durch einen wachsende gesellschaftliche Anerkennung aus. Kant entsprach keineswegs der Karikatur des weltfremden, ja schrulligen Gelehrten, die etwa Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche von ihm zeichneten. Er erwies sich vielmehr als blendend formulierender Vortragender, der Vorlesungen über Metaphysik, Moralphilosophie, Mathematik, Anthropologie, Geografie und Pädagogik hielt. Sein Vorlesungsstil - so der junge Johann Gottfried Herder - zeichnete sich durch einen "angenehmen Zwang zum Selbstdenken" aus. Die Professur, die Kant 1770 erhielt, ermöglichte es ihm, sein gesellschaftliches Leben auszudehnen. So hatte er nun Gelegenheit, täglich Freunde zu Tisch zu laden, denn für ihn war es ungehörig, "allein zu essen, denn dies sei für einen philosophierenden Gelehrten ungesund".

Königsberg ist auch der Entstehungsort seiner philosophischen Hauptwerke. Die "Kritik der reinen Vernunft" - Produkt einer fast zehnjährigen Arbeit - erschien 1781, wurde vorerst kaum beachtet und stieß später wegen ihrer äußerst schwierigen Terminologie auf Unverständnis. 1788 publizierte er die "Kritik der praktischen Vernunft" - die Summe seiner Überlegungen zur Ethik; 1790 folgte die "Kritik der Urteilskraft", in der Kant über die Bestimmung der Kunst reflektierte.

Seine letzten Jahre zeichneten sich durch einen Verfall seiner körperlichen Kräfte aus; am 12. Februar 1802 verstarb Kant, angeblich mit den Worten: "Es ist gut."

Die drei Kritiken

In der "Kritik der reinen Vernunft" befasst sich Kant mit der Einschätzung der menschlichen Vernunft durch verschiedene philosophische Denkströmungen. Hier präsentiert sich ein Kampfplatz endloser Streitigkeiten; nichts ist eindeutig, nichts fixiert. Die philosophischen Schulen produzieren nichts als Widersprüche: Während die Rationalisten davon überzeugt sind, dass eine Welt der Wahrheit existiert, die durch reines Denken erfasst werden könne, betonen die Empiristen den Vorrang der sinnlichen Erfahrung und verweisen das reine Denken in den Bereich der Spekulation.

"Kopernikanische Wende"

Kant wendet sich gegen beide Denkrichtungen. Er empfiehlt sein altes Rezept: Selbstdenken und schlägt vor, die Vernunft als "Gerichtshof" einzurichten, der die Ansprüche der unterschiedlichen philosophischen Schulen unvoreingenommen und kritisch prüft. Im Verlauf dieser Prüfung entwickelt Kant ein Modell, das als "Kopernikanische Wende" die Geschichte der Philosophie revolutionierte. Den zentralen Gedanken hat Kant so formuliert: "Der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor." Das meint, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten; Gewissheit gibt es nicht mehr in den Beobachtungen, sondern im Beobachter selbst. Die menschliche Wahrnehmung bildet nicht länger Wirklichkeit ab, sondern strukturiert sie. Dies bedeutet eine Emanzipation des autonomen Erkenntnissubjekts, das sich "nicht länger am Leitband der Natur gängeln lässt".

Grenzen der Vernunft

Ein weiteres Ergebnis der "Kritik der reinen Vernunft" ist die Infragestellung der "heiligen Kühe" der klassischen Metaphysik wie Gott, Unsterblichkeit oder Freiheit. Kant behauptet nun, dass die Vernunft nicht ausreiche, über diese metaphysischen Prinzipien etwas Verbindliches auszusagen. Die Vernunft sei nicht fähig - aufgrund ihrer strukturellen Bedingtheit-, all diese Fetische, die unter dem Begriff "Ding an sich" zusammengefasst werden, zu beurteilen. Sie seien bloße Ideale, die zwar bestehen können, für unsere Vernunft jedoch unzugänglich sind. Theodor W. Adorno hat dies als "bürgerliche Neutralisierung der metaphysischen und theologischen Gehalte" bezeichnet; Neutralisierung deswegen, weil Kant ihnen den auratischen Glanz entzogen hat, ihnen aber noch eine Schattenexistenz zubilligt. Für Kants Zeitgenossen war diese Destruktion der metaphysischen Werte ein Schock: ihm wurde vorgeworfen, als "Alleszermalmer" eine Umwertung der metaphysischen Werte zu betreiben.

Auch Kants zweites Hauptwerk "Die Kritik der praktischen Vernunft" ist von einem Streben nach Selbstdenken und dem Eintreten für einen würdevollen Umgang der Menschen miteinander geprägt. Von Jean-Jacques Rousseau habe er praktisches Erkenntnisinteresse an den Menschen gelernt, schrieb Kant - zu einem Zeitpunkt, als er durch seine wissenschaftlichen Studien in Gefahr war, Menschen zu verachten, die seine Bildung nicht teilten. Rousseau habe ihm - dem einäugigen Zyklopen - ein zweites Auge eingesetzt, das ihn befähigte, die Unzulänglichkeit der Menschen wahrzunehmen, ohne sie deswegen jedoch grundsätzlich zu verurteilen. Deswegen sei es notwendig, eine universelle Ethik zu entwickeln, die von den empirischen Unzulänglichkeiten absähe. Als oberstes Prinzip der Ethik formulierte Kant den Kategorischen Imperativ: "Handle so, dass du die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Später findet sich noch eine Ergänzung: Die menschliche Würde müsse sich so ausdrücken, dass der Mensch niemals als Mittel, sondern immer als "Zweck an sich selbst" behandelt werden müsse. Diesem Grundsatz ist wenig hinzuzufügen, außer eine Empfehlung Kants an die Philosophie: "Philosophie ist wirklich nichts anderes als eine praktische Menschenkenntnis; es ist zu bedauern, dass wir diese Bedeutung schwinden lassen."

Der Autor gestaltet in der Sendereihe "Dimensionen" am 11. 2. um 19.05 Uhr in Ö1 ein Porträt von Immanuel Kant.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung