Seine Philosophie gilt vielen als Inbegriff einer pessimistischen Weltsicht. Er hingegen wollte nur illusionslos auf die Wirklichkeit blicken. Zum 150. Todestag von Arthur Schopenhauer.
„Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier. Wir kennen es bloß im Zustande der Bändigung und Zähmung, welcher Zivilisation heißt.“ Dieser Befund des Philosophen Arthur Schopenhauer klingt wenig schmeichelhaft. Seine Aussage ist eindeutig und bezeichnet bereits seine Grundintention, die sich durch Angriffslust, Kompromisslosigkeit und Klarsicht auszeichnet. Schopenhauers Sache ist nicht die Anbiederung an die herrschenden Ideologien oder Religionen, wie sie von zahlreichen Philosophen betrieben wurde, sondern ein illusionsloser Blick auf den im Grunde katastrophalen Zustand der Welt, aber auch auf die existenzielle Hinfälligkeit des Menschen, der, einmal in die Welt geworfen, sein Leben als Krankheit zum Tode verbringt. Überall sieht der Philosoph Leid, Schmerz, Verwundung, Verstörtheit, Angst, Grausamkeit, Folter und Mord. Die Weltgeschichte enthält für ihn keine Tendenz zum Besseren, zum Fortschritt oder zur Humanität; sie ist kein Guckkasten, durch den man beschaulich den Weltverlauf betrachtet, sondern der Schauplatz eines erbarmungslosen Gemetzels. Diese Sichtweise Schopenhauers entspringt keineswegs einem persönlichen Hang zum Pessimismus, sondern ist das Ergebnis einer realistischen Sichtweise des Weltgeschehens, die er auch vom Philosophen einfordert: „Eine Philosophie, in der man zwischen den Seiten nicht die Tränen, das Heulen und Zähneklappern und das furchtbare Getöse des gegenseitigen allgemeinen Mordens hört“, so notierte er, „ist keine Philosophie.“
„Kaspar Hauser der Philosophie“
Mit dieser Radikalität des Denkens konnten die zeitgenössischen Philosophen wenig anfangen. Einen Großteil seines Lebens lang blieb Schopenhauer die Anerkennung durch die Universitätsphilosophen versagt; er fühlte sich als Außenseiter der zeitgenössischen Philosophie und bezeichnete sich als „Kaspar Hauser der Philosophieprofessoren“. Erst am Ende seines Lebens erfuhr der überaus selbstbewusste Philosoph mit Genugtuung eine wachsende Anerkennung seiner Werke, die er so kommentierte: „Der Nil ist bei Kairo angekommen.“
Geboren wurde Arthur Schopenhauer am 22. Februar 1788 in Danzig als Sohn einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, die ihn verpflichten wollte, in diesem Beruf tätig zu sein. Der frühe Tod des Vaters ermöglichte es Schopenhauer, sich der für ihn bestimmten Karriere zu entziehen und sich dem Studium der Philosophie zuzuwenden, wobei ihm das väterliche Erbe ein gesichertes Auskommen ermöglichte. Nach philosophischen Studien in Göttingen und Berlin, die er mit der Dissertation „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grund“ abschloss, erhielt er eine Dozentur an der Universität Berlin. Da er seine Vorlesungen demonstrativ zu den Stunden ansetzte, da auch Hegel seine Vorlesungen hielt, blieben die Hörer aus. Dies war der Beginn einer sich stetig steigernden Wut auf die akademische Philosophie, speziell auf die Systemphilosophie Hegels, die Schopenhauer als „ein Gewäsch wie aus einem Tollhaus“ bezeichnete. Vom akademischen Betrieb enttäuscht, zog er sich von der Universität zurück und lebte als Privatgelehrter bis zu seinem Tod am 21. September 1860 in Frankfurt am Main.
Getrieben von universalem Willen
Bereits 1819 hatte Schopenhauer in seinem umfangreichen Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ seine zentralen philosophischen Gedanken formuliert. Er ging davon aus, dass der Wille als metaphysisches Grundprinzip des menschlichen Handelns anzusehen ist. Diesen Willen setzte er nicht mit dem menschlichen Willen gleich, sondern bestimmte ihn als universelle Antriebskraft aller Organismen, die sich in Form von Wünschen, Verlangen, Begehren und Wollen artikuliert. Die verschiedenen Ausprägungen des Willens, die später Sigmund Freud als die Sphäre des Es, des Unbewussten, bezeichnete, sind stets im Fluss; ständig begehren sie etwas oder äußern Wünsche, die niemals restlos befriedigt werden. Diese „Wunschmaschinen“, wie sie der französische Philosoph Gilles Deleuze nennt, machte Schopenhauer für den rücksichtslosen Egoismus der Menschen („die Bejahung des eigenen auf Kosten fremden Lebens“) verantwortlich.
Bereits in der Natur ist der Egoismus das bestimmende Prinzip, wie der allgemeine Kampf in der Tierwelt zeigt: „Jedes ein Jäger und Jedes gejagt, Mangel, Not und Angst, Geschrei und Geheul in alle Ewigkeit!“ Der „Krieg aller gegen alle“ findet sich auch in der menschlichen Welt: „Der Mensch ist des Menschen Wolf“ – diese Charakterisierung von Thomas Hobbes ist für Schopenhauer eine kongeniale Beschreibung des omnipräsenten Egoismus, den er als anthropologische Grundkonstante ansieht. Der Egoismus treibt auch als Motor die Spektakelgesellschaft an, die den Menschen vorgaukelt, alle Bedürfnisse umgehend erfüllen zu können. Hier ergibt sich eine Parallele zu den gesellschaftskritischen Reflexionen der Frankfurter Schule von Theodor W. Adorno und vor allem Max Horkheimer, wenn Schopenhauer die Menschen gleichsam als Charaktermasken bezeichnet, die nur als bloße Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse fungieren. Die zivilisierte Welt ist für ihn eine „große Maskerade“, in der verschiedene Berufsstände ihre Rollen möglichst gut spielen, um das eigentliche Motiv – die Geldgier – zu verbergen. Die Folge davon ist eine Gesellschaftsform, in der ein „über alles ausgebreiteter Schleier der Verstellung, Falschheit, Heuchelei und Lug und Trug“ gebreitet ist.
„Das Rad des Ixion steht still“
Diesem Leben im ganz Falschen setzte Schopenhauer eine Philosophie entgegen, die den menschlichen Egoismus vehement bekämpft. Er rief zu einer „Abrüstung im Selbstbehauptungskampf“ – wie es Rüdiger Safranski in seiner Biografie „Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie“ formuliert – auf und wandte sich direkt dem bedürftigen Individuum zu, jenem Lebewesen, das, entkleidet seines ideologischen oder religiösen Überbaus, ein Leibwesen ist, getrieben von Angst und Schmerz. In seiner Ethik entfaltete Schopenhauer eine Philosophie des Mitleids, die konkret auf das Leiden anderer Wesen eingeht. Das Mitleid ist für ihn die Basis aller echten Menschenliebe, als „Güte des Herzens“ hat es „ganz allein das Wohl und Wehe des Anderen im Auge“. Im Mitleid überspringt eine Person die Schranken des eigenen Ichs und erkennt sich selbst in jedem anderen Wesen. Im mysteriösen Akt des Mitleidens, „wovon die Vernunft keine unmittelbare Rechenschaft geben kann“, wird das sich ewig drehende Rad, das vom Willen und seinen Manifestationen betrieben wird, angehalten; der universelle Hang, den Egoismus auszuleben, wird gestoppt. Das Mitleid beendet somit die blindwütig agierende Herrschaft des egoistischen Willens und ermöglicht das Gefühl einer universellen Solidarität, das im Getriebe des Alltagslebens verloren gegangen ist. „Es zeigt sich uns dann jener Friede, der höher ist als alle Vernunft“, schrieb Schopenhauer, „jene Meeresstille des Gemüts, jene unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit. Der Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens ist angebrochen, das Rad des Ixion steht still.“
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