Dem Tod in die Augen sehen

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Nicht nur der Glaube kann helfen, dem Tod zu widerstehen. Auch die Philosophie bietet mehr als Ansatzpunkte dazu an.

Jetzt beginnt wieder die "dunkelste Zeit des Jahres“, die sich als Ahnung der eigenen Vergänglichkeit auf die Seele legt. Zur Bewältigung kann man auf die Religion zurückgreifen, aber auch die Philosophie bietet dazu einiges an.

Die größte Anstrengung des Menschen besteht - einem Wort Elias Canettis zufolge - darin, "sich nicht an den Tod zu gewöhnen“. Er ist unausweichlich, dennoch will niemand wahrhaben, dass er sterben wird. Alles beginnt mit einem ersten Atemzug - aber es endet auch mit einem solchen. Die Erinnerung an Tod und Sterblichkeit - eindringlich und bildgewaltig wurde sie uns heuer vor Augen geführt: sei es in Form der mit zahllosen Opfern verbundenen Mahgreb-Revolten, sei es zum zehnten Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001, oder sei es in der Todesorgie des Anders Brevik in Norwegen.

Das Räderwerk aus Medien, Psychologen und Diagnostikern funktioniert noch. Wer rasche Antworten auf Gewalt und Tod sucht, wird prompt bedient. Wer indes tiefer gräbt, wer sich der Nacht aussetzt, "die kein menschliches Licht erhellt“ (Max Horkheimer), der kommt rasch an denkerische Weggabelungen. Die ausgetretenen Wege führen dabei in die Kirchen oder in achselzuckenden Agnostizismus. Auf dem Markt der Bewältigungsangebote sind Religionen noch immer ein Big Player, der mit reicher Tradition und der Kraft des Evangeliums den "Tod des Todes“ (Egon Kapellari) verkündet. Aber auch die agnostizistische Gleichgültigkeit, die in banale Diesseits-Attitüden mündet, erfreut sich großer Beliebtheit.

Das Ärgernis des Todes

Es gehört jedoch zu den hartnäckigsten Gerüchten, dass allein der Glaube helfen kann, dem Tod zu widerstehen. Wer dies behauptet, halbiert die Philosophie- und letztlich wohl die gesamte Kulturgeschichte. Denn längst haben die modernen Gesellschaften angefangen, nicht nur ihre moralischen Ressourcen selbst zu generieren. Auch der Schrecken vor dem Tod ist in seiner ganzen Tiefe und der darin verborgenen Hoffnung nachmetaphysisch durchwanderbar geworden. Dafür stehen so schillernde Namen wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer - aber auch ein Zeitgenosse wie der Philosoph Burkhard Liebsch oder der zu Unrecht in Vergessenheit geratene russisch-französische Philosoph Leo Schestow.

Gemeinsam ist ihnen allen, dass der Tod als Tod des Anderen, als Tod, der mich als Überlebenden zurücklässt, das größte Ärgernis darstellt, dem es Widerstand zu leisten gilt. Denn - wie es Liebsch formuliert - ein Leben, "das dem Tod des anderen zu nahe gekommen ist, wird zum beschädigten Leben, zum Über-Leben“. In der Tat verschont der Stachel des Todes nichts, sodass jede Rede vom gelingenden, vom glückenden Leben immer schon im Lichte des "äußersten Punktes der Verzweiflung“ steht und zu einem Leben in "ständiger Abschiedlichkeit“ wird, so Liebsch.

Theologie oder Philosophie?

Wenn Adorno in seiner berühmten Aphorismensammlung "Minima Moralia“ entsprechend formuliert, dass es "kein richtiges Leben im falschen“ geben könne, so ist das nicht etwa eine schillernde Perle nachtschwarzer kritischer Geschichtsphilosophie, sondern vielmehr eben dieser Begegnung mit dem Tod des Anderen geschuldet. Eine Begegnung, die den Namen Auschwitz trägt und die die eigentliche geheime Quelle aller Kritischen Theorie der sogenannten Frankfurter Schule - letztlich bis hin zu Jürgen Habermas - darstellt.

Gewiss, dieser äußerste Punkt der Verzweiflung markiert stets den Graubereich zwischen Philosophie und Theologie. Entsprechend bleibt selbst ein Denken, dass sich einem klaren Gottesbegriff versagt, dennoch theologisch affiziert. So schreibt Adorno im letzten Text der "Minima Moralia“: "Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten.“

Während die Kritische Theorie in den Kanon moderner Philosophie aufgenommen wurde, ist dem russischen Philosophen Leo Schestow diese Ehre nicht zuteil worden. Dabei bemüht sich gerade dieser 1866 in Kiew geborene und 1938 in Paris gestorbene Denker darum, die Philosophie dadurch zu reformieren, dass sie das Hoffen als Ahnung des ganz Anderen neu lernen müsse.

Schestows radikale Reform

Schestow zielte auf eine Radikal-Reform - denn auch er blickte auf eine radikale Erfahrung zurück: die Erfahrung des Todes in Form der russischen Revolution 1905 mit seiner ungezügelten Gewalt sowie der Tod seines Sohnes im Ersten Weltkrieg. So konnte Schestow in seinem Hauptwerk "Athen und Jerusalem“ (1938) formulieren: "Ein menschliches Denken, das dem Tod in die Augen sehen will und kann, ist ein Denken anderer Dimensionen als jenes, das sich vom Tode abwendet und den Tod vergisst.“ Der Tod - er verleiht dem Denkenden "neue Augen“.

Schestows Philosophie ist daher ein einziges großes "Memento Mori“, sie ist Einspruch gegen die kalte Gleichgültigkeit einer Philosophie, die auf der Suche nach dem Unvordenklichen ihre Opfer übersieht; und sie mahnt ein Denken ein, für das "menschliche Tränen mächtiger sind, als jene Notwendigkeiten, die durch augenscheinliche Einsichten festgestellt werden“. So kann Schestow - wohlgemerkt als Philosoph - formulieren: "Gott sagen heißt, dem Tod widerstehen.“

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