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Der zweite Tod

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Der im 19. Jahrhundert allgemein geschätzte ordentliche öffentliche Professor für Logik und Metaphysik an der Albertus - Universität zu Königsberg, Dr. phil. Immanuel Kant, ist, wie wir erfahren, kürzlich verstorben. Das Todesjahr 1804, das der Brockhaus angibt, muß als verfrüht bezeichnet werden. Denn wir hatten seither immer noch etwas von Kant: sein philosophisches System, ein logisch-sauber gebautes Haus, in dem das Volk Kants — früher gewöhnlich das „preußische“ genannt —, in dem eine Kulturmenschheit mit dem Pflichtbewußtsein des kategorischen Imperativs und mit Verantwortungsfreudigkeit wohnte. In den Schrecken des letzten Krieges brachen Menschheit und Gebäude zusammen, doch stand wenigstens die Fassade. Jetzt ist auch die Fassade eingestürzt. Kein ehrlicher Windstoß, sondern ein Griff aus dem Dunkeln hat es geschafft. Der Sarkophag Immanuel Kants, der unbeschädigt immer noch unter den Trümmern des Mausoleums an der Rückfront der Königsberger Domkirche stand, ist, wie „Christ und Welt“ berichtet, kürzlich von unbekannten Tätern aufgebrochen und beraubt worden. Damit ist Kant wirklich gestorben. Nicht das gesittet sich benehmende radikale Böse“, das er in seinem System auch vorgesehen hatte, hat ihn getötet. Apokalyptischer Schrecken war es, die Hand einer Macht, die zuerst ausgesperrt und verbannt von Logik und Ethik, dann von den Bewohnern jenes Gebäudes vergessen worden war. Das ist Zugriff des Chaotischen, Ungeformten, Griff aus einer Welt, die mit der Königsberger nichts gemeinsam hat, ja noch nicht einmal von ihr erahnt, geschweige denn be- schrieben worden wäre.

Immanuel Kant ist also nun tot. Die Feiern • des Kant-Jahres ' 1954 werden ob des heute Geschehenen ein gespenstisches Gesicht tragen, wenn die abendländische Menschheit sein Sittlichkeitsbewußtsein nicht in sich wieder zu erneuern versteht.

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