Bruch der Sehgewohnheiten

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Der Blick auf Tschechow hat in Wien die Tradition eines gediegenen, getragenen Spielstils voll melancholischer Stimmungsbilder. Diese Linie hat das Volkstheater nun durchbrochen und sich an den Überlegungen Tschechows orientiert, überliefert u. a. in seinen Briefen.

Das bedeutet einerseits, dass Regisseur Thomas Schulte-Michels die "Drei Schwestern" als Komödie gelesen hat, andererseits, dass seine Protagonistinnen keine depressiven, ätherischen Wesen sind, die nichts anderes als nach Moskau wollen, sondern vitale Frauen.

Größtmögliche Offenheit

Schon im ersten Bild zeigt die Bühne (ebenfalls von Schulte-Michels) größtmögliche Offenheit: Ein "Zweizeiler" stellt die Figuren ins Zentrum. An der Rampe befindet sich ein langes Sofa, in und auf das sich die lebensblockierten Schwestern (hinein)werfen - dahinter, erhöht, eine feudale Tafel, die fürs Frühstück angerichtet ist.

Ebenso verknappt und ornamentfrei wie die Bühne ist die Übersetzung von Alexander Nitzberg, die eine neue Dynamik entwirft und die Figuren wesentlich stärker konturiert.

Da ist die Älteste, Olga, von Claudia Sabitzer als gerechte, aber überforderte Lehrerin dargestellt, die am Ende Schulleiterin wird, was sie nie werden wollte. Die Mittlere, Mascha, wird von Heike Kretschmer als nervöse, exaltierte Lehrergattin gespielt. Sie verliebt sich in den Kommandeur der Artilleriegarnison (Marcello de Nardo), wird aber am Ende von ihm verlassen. Wie keine andere nutzt sie jede Möglichkeit der Zerstreuung, um sich von ihrer Ehe abzulenken. Kretschmer entwickelt aus der Mascha jenen aufgereizten Charakter, den Tschechow von seiner Frau Olga Knipper (die in der Uraufführung die Rolle spielte) einforderte: "Nervös, aber nicht verzweifelt, schrei nicht, lächle wenigstens manchmal […] so, dass man die Erschöpfung der Nacht spürt."

Die Jüngste, Irina, zeigt Luisa Katharina Davids als heiter-zarte junge Frau, die sich große Aufgaben und eine ebenso große Liebe vom Leben erwartet. Als sie endlich ihren Kompromisskandidaten Baron Tusenbach (Till Firit) erhört, der ihr wenigstens ersteres verspricht, zerbricht die Hoffnung in wenigen Augenblicken. Tusenbach stirbt im Duell mit dem Hauptmann (Thomas Meczele).

Männer sind komische Gestalten

Die Männer sind bei Schulte-Michels komische Gestalten, ihre Tatenlosigkeit blockiert die Frauen. Allen voran der Bruder Andrej, der anstelle einer Universitätskarriere eine Beamtenlaufbahn wählt. Raphael van Bargen spielt den Andrej jedoch falsch: Dessen vergammelter, aber dennoch nervös-energiegeladener Denker ist alles andere als Tschechows lethargischer Versager, der das Haus verpfändet und sich seiner berechnenden, selbstzufriedenen Frau Natalia (Anna Franziska Srna) unterwirft.

Bei Schulte-Michels sind die beiden vielmehr ein komisches als trauriges Paar, ebenso wie Mascha und ihr Mann Fjedor, den Thomas Kamper überzeugend liebenswürdig-bieder präsentiert, allerdings ohne den bösartigen Zug. Schulte-Michels' skurrile (manchmal aber auch einseitige) Figurengestaltung sowie sein Fokus auf das Komische erweisen sich als polarisierend für das Wiener Publikum.

Von diffusen, morbiden Sehnsüchten und Vorstellungen von echter Urbanität (die schließlich auch der "Wiener Seele" zugesprochen werden) ist im Volkstheater wenig zu spüren. Schulte-Michels entwirft vielmehr eine dynamische und scharf konturierte Gesellschaftsstudie, die mit den üblichen Tschechow-Sehgewohnheiten bricht. So warten am Ende keine düsteren Bilder, sondern ein hart ausgeleuchteter Raum, in dem die drei Schwestern die Kernfrage nach der Möglichkeit des Glücks neu formulieren.

Luisa Katharina Davids spielt die Rolle der Irina in "Drei Schwestern" im Wiener Volkstheater.

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