Czeslaw Milosz' philosophische Bilanz

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Die außergewöhnliche, anachronistische, metaphysische Reise eines weisen alten Mannes zur Wahrheit.

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Die außergewöhnliche, anachronistische, metaphysische Reise eines weisen alten Mannes zur Wahrheit.

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D ie Erinnerung an die bellenden kleinen Hunde, die um 1900 dem Zweispänner entgegensprangen, wenn er sich einem Dorf oder Gasthof näherte, inspirierte Czeslaw Milos zum Kurzprosa-Band "Hündchen am Wegesrand". Es ist die außergewöhnliche, anachronische und metaphysische Reise eines weisen alten Mannes durch seltsame Erlebnisse. Eine Reise zur Wahrheit über sich selbst und die Welt. Wie ein Zeuge am Wegesrand beobachtet er den kosmischen Ablauf der Dinge und zweifelt immer mehr am Erkenntnisvermögen des Menschen.

Zögernd reift der Gedanke, die Wahrheit über das Schicksal des Menschen sei eine andere als jene, die man ihn lehrte. Doch wir schrecken davor zurück, sie beim Namen zu nennen. "Hündchen am Wegesrand" enthält die Summe eines poetisch-philosophischen Denkens. In kurzen Prosastücken und einigen Gedichten offenbart Milosz seine Gedanken über Leben und Tod, Religion und Kirche, Philosophie und Kultur und die ewige Frage nach dem Geheimnis des Daseins. Wir leben in einer Welt voll Illusionen. Milosz geht auf Distanz zu Wirklichkeit und Sprache, die nicht adäquat sei der Welt, die sie ausdrücken solle: "Das Sprachgewebe neigt dazu, sich von der Wirklichkeit loszulösen, und unsere Bemühungen, Sprache und Wirklichkeit wieder zusammenzufügen, sind meistens vergeblich, obwohl absolut notwendig."

Er warnt vor der Aufteilung der Welt in erlebte und beschriebene Wirklichkeit: "Von der rauen Wirklichkeit, mit der man täglich konfrontiert ist, löst sich eine zweite, eigenständige, in der Sprache festgehaltene Wirklichkeit ab, die der ersten in keiner Weise gleicht." Die religiösen und theologischen Fragen stehen, weit entfernt von jedem orthodoxen Denken, im Zentrum seines Interesses. Dankbar dafür, dass er "vor langer Zeit in einem hölzernen Gotteshaus unter mächtigen Eichen" in die römisch-katholische Kirche aufgenommen wurde und in seinem langen Leben "gläubig oder ungläubig" über ihre Geschichte nachdenken kann, steht er der Theologie kritisch gegenüber, "da diese alle Aussagen zu einer glatten Kugel abrundet, die sich leicht hin- und herrollen lässt, die man aber nicht fassen kann". Poesie sei die Predigt von heute, sie habe im zwanzigsten Jahrhundert eine Sprache ausgebildet, die auch von den Theologen benutzt werden konnte.

Im "Hündchen am Wegesrand" schlägt Milosz seine eigene Metaphysik vor, poetisch und paradox, zerrissen zwischen Glauben und Unglauben. In einer kurzen Geschichte sieht ein Atheist im Nachdenken über Religion die einzige würdige Beschäftigung eines Philosophen. An erster Stelle steht für ihn das Christentum, gleich dahinter der Buddhismus wegen des "Mitgefühls mit anderen, das sich der Mensch angesichts einer Welt aus Stein" bewahrt hat.

Milosz schreibt in diesem Spätwerk in einer klaren, sehr zugänglichen Sprache über metaphysische und religiöse Erlebnisse. Weder philosophischer Traktat noch Essay, passt der Band in keine Kategorie. Prosa mischt sich mit Gedicht, poetische Betrachtung der Welt mit philosophischer Neigung zum Diskurs.

Fragmentarisch und lapidar ist das "Hündchen", dabei besticht dieses Buch durch Ehrlichkeit, Weisheit, Witz, Ironie und eine unglaublich frische Wahrnehmung der Welt. Trotz der kleinen literarischen Form ist es ein wichtiges Werk im literarischen Schaffen von Czeslaw Milosz. Die knappe Form steigert Intensität, Konzentration und Ausdruckskraft. Am Abend seines Lebens schrieb Milosz damit ein besonders persönliches Werk, fast ein intimes Tagebuch.

HÜNDCHEN AM WEGESRAND

Von Czeslaw Milosz

Deutsch von Doreen Daume

Carl Hanser Verlag, München 2000

240 Seiten, geb., öS 204,-/e 14,83

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