Phantomschmerz Geschichte

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Gespalten ist Polen, wenn es gilt, den 100. Geburtstag des Dichters Czeslaw Milosz zu feiern: Manchen gilt der 2004 gestorbene Emigrant als zu wenig patriotisch - und zu philosemitisch.

Sind wir noch Mitwisser? Haben wir noch einen Begriff davon, was es im letzten, kaum vergangenen Jahrhundert bedeutet hat, ein Leben unter dem Gebot der Verstellung, der Willkür fremden Willens, der Erschütterung durch gebrochenes Vertrauen führen zu müssen? Stets von neuem dem Zwang zur Täuschung, dem Drang zur Lüge, dem Hang zum Verrat ausgesetzt gewesen zu sein? Müssen wir tatsächlich bereits in die Archive der Zeitgeschichte gehen, um nachzublättern, wie viele Hekatomben von Opfern dem Systemzwang totalitärer Herrschsucht zuzuschreiben sind?

Wir müssen Mitwisser bleiben. Dazu verpflichtet uns der Geschichtssinn. Hilfreich ist dabei die Literatur. Dank Herta Müllers bedrückender Beschwörung des rumänischen Völkerkerkers etwa können wir uns jüngst wieder ein Bild von dem jahrzehntelangen Freiheitsraub machen - und auch von den noch immer griffbereiten Geheimdienst-Greifarmen der Securitate. Herta Müller hat erneut gezeigt: Das Leid so vieler amputierter Lebenschancen im 20. Jahrhundert ist der Phantomschmerz, der uns noch immer begleitet.

Verführbarkeit des Geistes

Mitwisser indessen konnte man schon früh sein. Denn dank dem polnischen Dichter Czeslaw Milosz konnte man bereits 1953, in Stalins Todesjahr, Kenntnis von dem schleichenden Suchtgift erhalten, mit dem das totalitäre Denken den Geist der Intellektuellen, Schriftsteller, Künstler im kommunistischen Osten verführbar hielt. Zwei Jahre nach seinem freiwilligen Absprung aus dem diplomatischen Dienst in den Westen hatte Milosz, vormals polnischer Kulturattaché in Washington und Paris, im Exil seine aufsehenerregende Studie "Verführtes Denken“ veröffentlicht. Entlang einer Gemäldegalerie psychologisch präzis porträtierter polnischer Autoren hatte der Dichter, damals Anfang vierzig, eine aufschlussreiche Typologie des angepassten Geistes unter der Knute eines despotischen Regimes entworfen. Zurückblickend schrieb er: "Ich fühlte, dass es mir unmöglich sein würde, über diese Dinge zu schreiben: Möglich wäre nur das Aussprechen der ganzen Wahrheit gewesen und nicht nur eines Teiles. Dasselbe empfand ich übrigens gegenüber den Ereignissen zur Zeit der Nazi-Besetzung in Warschau …“

In Warschau hatte Milosz am Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht teilgenommen. 1943 wurde er Zeuge des Aufstands im Ghetto und verfasste darüber sein aufrüttelndes Poem "Campo di Fiori“, in dem er die Gleichgültigkeit der Massen beim Brennen jüdischer Menschen und Häuser mit der Teilnahmslosigkeit der Römer beim Feuertod Giordano Brunos auf dem Scheiterhaufen verglich. An diesem Mahnmal in Versen, für das Milosz von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als einer der "Gerechten unter den Völkern“ geehrt wurde, nehmen in Polen noch heute viele seiner Landsleute Anstoß.

Mit seiner tiefgründigen Analyse des "Verführten Denkens“ wurde Milosz damals im Westen gewissermaßen zum Sonderbeauftragten früher Totalitarismuskritik. Das Buch ist für den Leser heute mitnichten nur eine historische Hinterlassenschaft. Vielmehr dringt aus ihm noch immer der Warnruf eines wachen, unbestechlichen Geistes nach draußen. Nicht zuletzt hat der Autor damit das Gedächtnis der Nachwelt anhaltend gegen die Amnesie von Erkenntnis, Erschrecken, Reue und Scham imprägniert.

Der Emigrant hatte genug Erfahrung im Gepäck, um auch den Westen kritisch zu sehen: "Die Sittlichkeit der Zivilisation ist zerbrechlich. Es genügt ein plötzlicher Wechsel der Lebensbedingungen, und die Menschheit kehrt in den Urzustand der Wildheit zurück. Wieviel Illusion ist im Denken der ehrenwerten Bürger, die durch die Straßen der englischen oder amerikanischen Städte gehen und sich für Wesen voller Tugend und Güte halten!“

Jahrzehnte seiner ausgedehnten Lebensreise verbrachte Milosz fortan fern der heimatlichen Landschaft und Sprache. Gleich Ovid suchte er in der Verbannung des Heimwehs und der Sehnsucht in Gedichten von traditionsbewusster Erlesenheit Herr zu werden: "Meine treue Sprache, / vielleicht bin ich es, der dich dennoch retten müsste. / Also werde ich weiterhin vor dich Töpfchen mit Farbe stellen, / mit hellen und reinen Farben, wenn möglich, / denn irgendeine Ordnung oder Schönheit im Unglück tut not.“

"Gerechtigkeit und Wahrheit“

Nach zehn Jahren in Frankreich nahm er 1961 eine Professur für slawische Literatur im kalifornischen Berkeley an. Er blickte zurück auf seinen angestammten Kontinent mit seiner Geschichtslast: "Meine süße europäische Heimat, / Der Falter, der sich auf deine Blumen niedersetzt, / befleckt seine Flügel mit Blut.“ Und kannte den damit verbundenen Zwiespalt der Gefühle: "Es ist ein Wahn, ohne ein Lächeln zu leben, / Zwei Worte zu wiederholen, / Die euch, ihr Toten, gelten, / Euch, die ihr teilhaben solltet / Am Frohsinn der Taten … / Zwei herübergerettete Worte: / Gerechtigkeit und Wahrheit.“

Noch in Paris hatte er sein wohl schönstes Buch, voller Knabenseligkeit und Naturfeier, abgeschlossen: den Roman "Tal der Issa“. Schauder und Schönheit einer Kindheit voll Entdeckungen zwischen Honigbienen, Haselhähern und Schlangen werden darin beschworen: "Er war, das muss man erwägen, ein einsames Kind in einem Königreich, das sich je nach Wunsch verwandelte.“

Die Landschaft am Fluss Issa ist das Wald- und Wiesenreich Litauens, Heimat des dort vor 100 Jahren, am 30. Juni 1911, in Seteniai geborenen Autors. Im "Tal der Issa“ lässt er seinen heranwachsenden Helden Tomasz in Gedanken jene Fragen formen, die den Grund allen Dichtertums bilden: "Wie kommt es, dass man ist, was man ist? Wovon hängt das ab? Und was hätte er sein können, wenn er ein anderer geworden wäre?“

Empfang beim polnischen Papst

Im brandgefährlichen "Solidarno´s´c“-Herbst 1980 wurden in Polen erstmals wieder öffentlich Gedichte von Czeslaw Milosz rezitiert, des soeben mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichneten Dichters im Exil. Dreißig Jahre lang war er damals bereits fern von seinem Land, noch knapp zehn sollten es bis zum endgültigen Niederreißen des Eisernen Vorhangs dauern. Im "Verführten Denken“ hatte er noch wie in Flammenschrift vor einer kommunistischen Weltherrschaft gewarnt: "Es wäre ohne Zweifel der größte Erfolg des Imperiums, wenn es im Vatikan einen parteihörigen Papst einsetzen könnte.“ Nun empfing ihn in Rom ein polnischer Papst, der sich die Zerschlagung der kommunistischen Hegemonie in den Ostblockstaaten vorgenommen hatte.

Heute stören die internationale Ausrichtung und das kosmopolitische Denken des 2004 in Krakau verstorbenen und dort in der Krypta auf dem Wawel, dem polnischen Pantheon, bestatteten Autors manch engstirnigen Kopf in Polens nationalistischen und ultrakonservativen Kreisen. Indes, der Maßstab, mit dem ein Dichter gemessen wird, ist seine Leistung für die Literatur. So eröffnet denn das offizielle Polen seine EU-Ratspräsidentschaft mit einer großflächigen Zentenarfeier zum Geburtstag von Czeslaw Milosz, der 1979 in dem Aufsatz "Ein Schriftsteller im Exil“ geschrieben hat: "Auf die Frage, welches die Kriterien der Größe in der Literatur sind, antworte ich: kosmische Weite der Vision und Großzügigkeit.“

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