6603920-1954_05_08.jpg
Digital In Arbeit

Noch ist Polen nicht gewonnen…

19451960198020002020

Das Gesicht der Zeit. Von Czeslaw Milosz. Aus dem Polnischen übertragen von Prof. Dr. Alfred Loepfe, Europa-Verlag, Stuttgart 1953. 224 Seiten.

19451960198020002020

Das Gesicht der Zeit. Von Czeslaw Milosz. Aus dem Polnischen übertragen von Prof. Dr. Alfred Loepfe, Europa-Verlag, Stuttgart 1953. 224 Seiten.

Werbung
Werbung
Werbung

Die „Sintflut" heißt jene Epoche des 17. Jahrhunderts der polnischen Geschichte, in der fremde Kriegerscharen gleich Heuschrecken das Land verheerten. Den Pulks der Kosaken folgten die Kolonnen der Schweden. Diese wieder wurden abgelöst von den Schwärmen der Türken. Invasionen aus dem Westen, Invasionen aus dem Osten, fremde Heere aus dem Norden, fremde Heere aus dem Süden — und kein Ende abzusehen .. . Aehn- lich in unseren Jahrzehnten. Als der grauen Springflut aus dem Westen lehmbraune Wogen aus der entgegengesetzten Himmelsrichtung folgten, da erstickten die letzten streng gehüteten Hoffnungen und bitterste Leiden wurden — nach aller menschlichen Vernunft — sinnlos.

Aus dieser zweiten Sintflut über dem polnischen land kommt der Ruf Czeslaw Milosz'. Es ist eine Botschaft aus der Arche. In dem vorliegenden Roman berichtet der junge Autor, der jahrelang dem gegenwärtigen Regime — zuletzt Kulturattache an der polnischen Gesandtschaft in Paris — diente und deswegen auch nach seinem Absprung nicht eine ungeteilte freundliche Aufnahme fand, von dem, was sich im letzten Jahrzehnt in Polen begeben hat. Entgegen der Vorbemerkung „die Hauptpersonen des Romans sind frei erfunden", trägt das Buch doch starke autobiographische Züge. Unschwer ist in dem Offizier der sowjetpolnischen „Kosziusko-Division", Piotr Kwinto, seinen Gedanken und seinem weiteren Lebensweg als Journalist und Schriftsteller in „Volkspolen“

die Person und das Schicksal des Verfassers zu erkennen. Aber auch hinter anderen Masken schauen Hauptakteure und Statisten der großen polnischen Tragödie unserer Tage aus Fleisch und Blut.

Milosz berichtet aber nicht nur von dramatischen Ereignissen; noch wertvoller ist sein literarisches Zeugnis von dem, was in der Brust, im Denken und Fühlen der Menschen, vor allem der Jugend, für langsame aber bedenkliche Verwandlungen vor sich gehen. Wie kaum ein zweiter, der in den letzten Jahten aus jener Welt hinter dem großen Vorhang kam, Versteht er die Unheimlichkeit dieses Prozesses deutlich zu machen. Leutnant Kwinto, d. h. Milosz selbst, war ein Objekt des großen Versuches, der großen Versuchung. Die Welt von 1884 scheint bereits die unsere …

Ohne Zweifel hat diese Gabe eindrucksvoller Aussage bei äußerster Ruhe und Zurückhaltung in der Wahl der Mittel Czeslaw Milosz den „Europäischen Literaturpreis 1953" eingebracht. Und das mit Recht. Denn Kunde aus jener anderen Hälfte Europas zu geben, wahre Kunde, ohne dem „Pro"- oder „Anti"-Zusatz der Propaganda, ist eine Tat, die — da selten — schon allein deswegen hervorgehoben gehört.

Die Taube, die Milosz aus seiner auf den Fluten der über Polen hereingebrochenen Sintflut ausschickt, bringt keinen Oelzweig. Noch ist Polen nicht gewonnen …

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung