Das Ghetto als Theater

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Joshua Sobol hat sein Stück in Klagenfurt wirkungsvoll inszeniert.

Bei der europäischen Erstaufführung von Joshua Sobols Stück "Ghetto" in der Regie von Peter Zadek in Berlin debattierte man 1984 noch darüber, ob man, zumal in Deutschland, Juden so zeigen dürfe: nicht nur als Opfer, sondern auch als skrupellose Geschäftemacher, Mörder und Kollaborateure der Nazis. Heute weiß man: Dass die Nazis auch die Opfer ihrer Menschlichkeit beraubt haben, verringert ihre Schuld nicht, sondern vergrößert sie. Sobol hat sein Stück jetzt in Klagenfurt inszeniert, und wieder ist beklemmend spürbar geworden, wie schnell Situationen und Argumente kippen: Lagerkommandant Jacob Gens (hervorragend verkörpert von Matthias Freihof) "kollaboriert", um einige Juden zu retten, während der skrupellose Schneider Weiskopf (Maximilian Hilbrand) damit nur seine Geschäftsinteressen kaschiert. Die solidarisierende Kraft der Kunst, spürbar im gemeinsamen Singen der Ghetto-Insassen, muss sich im Handumdrehen prostituieren, um SS-Offizier Kittel (überzeugend in seinem Sadismus und seinen Allüren Jens Schnarre) bei Laune zu halten.

Kunst und Kollaboration

Klagenfurt hat kein Ensemble, doch die vielen Akteure dieses "Polydramas" sind so fein aufeinander abgestimmt und Kittel, Gens sowie der in seinem Tagebuch alles festhaltende Bibliothekar Kruk (überzeugend bis in Blick und Sprechweise Alexander Lhotsky) so stark aufeinander bezogene Gegenspieler, dass Momente schneidender Präsenz gelingen. Denn die Aufführung historisiert das Ghetto von Vilnius nicht, sondern erschafft es auf der Bühne neu.

Gens und die Ärzte, die Diabetiker mit hohem Insulinbedarf dem Tod überantworten, damit die anderen länger überleben können, rechtfertigen sich vor der Nachwelt. Und dabei wird sichtbar, dass es Selektion auch heute gibt und die Maxime "mitmachen, um Schlimmeres zu verhindern" keineswegs ausgedient hat.

Einmal - einer der Höhepunkte des Abends - scheint Gens an seinem Mitmachen zu zerbrechen: er hat eben Kinder selektiert. Er will sich erschießen, und lässt es doch bleiben, um weitere Deals machen und einige Juden retten zu können.

Mal detailgenau, mal in schreiend grotesker Zuspitzung ist das Ghetto auf der Bühne präsent. Die Klagenfurter Aufführung gibt den Zusehern die Möglichkeit der Identifikation, um sie ihnen sofort wieder zu entziehen. Srulik, der Leiter des Ghetto-Theaters (Roman Schmelzer) im Duo mit seiner Puppe Lina (eine Glanzrolle für Lydia Nassall) verkörpern die Simultaneität von Witz und tödlichem Ernst, und bevor die jiddischen Lieder der Sängerin Chaja (berührend gespielt von Karola Niederhuber) zu einfach zu Herzen gehen können, schlägt die Musik schnell einen Haken.

Mitleid nicht möglich

Nein, das Ghetto ist hier nicht konsumierbar, und der verharmlosende Ausweg des Mitleids durch die beklemmende Simultaneität von Amüsement und Vernichtung radikal abgeschnitten. Nicht alle haben das ausgehalten, ein (kleiner) Teil des Publikums ist in der Pause gegangen. Der Großteil hat am Ende intensiv applaudiert. Joshua Sobols "Ghetto" hat in einem Vierteljahrhundert nichts von seiner irritierenden Kraft verloren und zeigt, wo das Theater dem Dokumentarfilm überlegen ist.

Dass Sobol, der international bekannteste Theatermann Israels, zusammen mit seiner Frau Edna (Bühne) in Klagenfurt gearbeitet hat, ist für das Theater eine kleine Sensation. Und das Ergebnis eine Reise dorthin wert.

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