Ein Sessel ist kein Schwachsinn

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Der vom deutschen Magazin Opernwelt mehrfach als "Regisseur des Jahres“ hochgelobte Chef-Regisseur in Leipzig war jüngst in einem Interview der Meinung "90 Prozent von dem, was auf Opernbühnen stattfindet, ist Schwachsinn“. Cool reduziert er Verdis "Vom Weg Abgekommene“ um 20 Minuten, speziell die Ballettszenen der Toreros und der Kartenaufschlägerinnen sowie den kurzen Karnevalstaumel des dritten Aktes.

Was Kenner seit 1853 begriffen haben, nämlich dass Verdis Zeitsittenbild ein Plädoyer für Frauenfreiheit und gegen Bürgerbigotterie war, wird nicht dadurch heutiger, dass die Spaßgesellschaft im zeitlosen Smoking daherkommt. Diskutabel ist aber Konwitschnys Straffung der Oper zum Totentanz Violettas, zum Dreipersonenstück, worin seine Personenführung glaubhaft erscheint. Die Hinzuerfindung einer vom Vater Alfredos brachial eingeschüchterten Schwester ist freilich kein genialer Einfall, sondern nur eine ärgerliche Überdeutlichkeit.

Schön gelingt der Beginn: Konwitschny lässt im Vorspiel den Zuschauerraum im Takt mit den abfallenden Streichern dunkel werden und im Finale wieder hell werden. Vater Germont erscheint durch den Mittelgang des Parketts, sein Sohn Alfredo flüchtet vor der Sterbenden über die Brüstungen der Parterrelogen an seines Übervaters Brust. Als Ausstattung (Johannes Leiacker) genügen sieben rote Vorhänge, ein wiederholt umgeworfener Sessel, vier kleidsame Kostüme für Violetta, die mehrfach auch Perücken wechselt. Wie schon in seiner Grazer "Aida“ bringt Konwitschny Karnevalshütchen ins Spiel, was von Franco Zeffirelli bis Willy Decker, von Wazlaw Orlikowsky bis Dietmar Pflegerl keinem eingefallen wäre.

Petersen "zu weiß“ für eine Violetta

Tecwyn Evans und das Grazer Philharmonische Orchester musizieren eine kammermusikalisch zurückhaltende Version. Evans kann nach einem Ausrutscher vor dem "Brindisi“ die Partitur ohne falschen Aplomb ohne Pause durchziehen, ohne dass die Protagonisten in Atemnot geraten.

Konwitschny hat die deutsche Sopranistin Marlis Petersen, 2010 von der Opernwelt zur "Sängerin des Jahres“ ernannt, zur Facherweiterung mit ihrer erst dritten italienischen Partie verführt. Eigentlich eine auf Koloratur und höhensichere Moderne geeichte Sängerin, hat Petersen selbst in einem Interview Zweifel angemeldet und hält ihre Stimme für "zu weiß“ für eine Violetta. Aber sie meistert das "È strano“ mit Bravour und gibt auch dem tragischen Finale eine vox humana, freilich ohne echte Italianità.

Der sizilianische Tenor Giuseppe Varano gibt den verhaltenen Schüchti ohne jegliche Virilität, muss ohne Smoking in die Partywelt und mit Hornbrille seine Romantik aus Büchern saugen. Der Bayreuther Sachs aus England, James Rutherford, als Vater Germont klingt weich, viel zu nasal, insgesamt sehr deutsch.

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