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Armut im reichen Kanada

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Trotz der seit Jahren währenden Hochkonjunktur im zweitgrößten Land der Erde, ist dort die Zahl der Armen durchaus nicht gering. Selbst der „Toronto Daily Star“, Kanadas größte Zeitung — der Regierung Trudeau nahestehend —, weist darauf hin, daß es „fast verbrecherisch“ sei, in Armut lebende Einzelpersonen mit einem Jahreseinkommen von 1200 Dollar und Familien mit einem Jahreseinkommen von 2500 Dollar mit der Zahlung der Einkommensteuer zu belasten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß die Ärztezeitschrift „Ontario Medical Journal“ am gleichen Tag in ihrem Leitartikel darauf hinweist, daß das Einkommen der Mediziner in der Kernprovinz Ontario mit der Inflation nicht Schritt halte — obwohl die Einkünfte der Ärzte hier im letzten Berichtsjahr die durchschnittliche Höhe von 42.721 Dollar erreichten. Wie drückend die Armut auch in den Großstädten ist, zeigt die Aktion des Montrealer Erzbischofes Gregoire im Stadtteil Pointe Saint Charles. Ein „100.000-Dollar-Experiment“ wird in

diesem Slumgebiet von „Kanadas Paris“, in dem 25.000 Menschen leben, lanciert. Das 100.000-Dollar-Projekt wird für die Eröffnung von Lebensmittelgeschäften auf kooperativer Grundlage und für die Errichtung von Gratiskliniken verwendet. Später soll sich das Programm auch auf St. Henri und Little Burgundy erstrecken. Die Wochenlöhne der hier lebenden Arbeiter betragen im Durchschnitt 60 bis 70 Dollar, doch 40 Prozent sind stellenlos. Die Kluft zwischen Armen und Wohlhabenden in Kanada wird immer größer. Hier gehören Ärzte zu den Spitzenverdienern. Ihre Einkünfte sind derart, daß ein Programm der Provinz Ontario (Bevölkerung 7,300.000), das jungen Ärzten ein garantiertes Jahreseinkommen von 26.000 Dollar bot, wenn sie in entlegenen Gebieten praktizieren wollten, nur von zwei Medizinern akzeptiert wurde.

Besonders ältere Kanadier leiden unter der Geißel der Inflation. Immer wieder spiegeln Briefe an die Presse ihre bedrängte Lage. Soeben weist ein Neunundsechzigj ähriger,

„der 55 Jahre hart arbeitete“, darauf hin, daß er seine Ersparnisse in staatlichen Annuitäten anlegte. Die Dollars aber, die er heute erhalte, hätten — mit dem Zeitpunkt seines Rentenkaufes verglichen — eine zur Stunde geltende Kaufkraft von kaum mehr als 25 Cents.

Scott Collin hat eine Farm mit einem guten Haus, 30 Rindern und einigen Schweinen bei Warkworth, 90 Meilen östlich von Toronto. Die Familie Collin, die nun in der Metropole am Ontariosee lebt, bietet in diesem Farmhaus einem älteren Ehepaar Unterkunft, das dafür die Wartung der Tiere übernehmen soll — während Scott Collin und seine Frau die schweren Landarbeiten am Wochenende verrichten. Ein Strom von 237 Zuschriften erreichte Scott Collin. Seine Gattin berichtete: „Obdachlose Menschen, Familien, die wegen der hohen Zinse nicht zusammen leben können, und ältere Ehepaare, die von der Hand in den Mund leben, schrieben uns. Welch ein trauriger Kommentar zu dem Leben in unserem angeblich so reichen Land.“

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