Grausame Realität, unheimliche Träume

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Mit Brittens Zweiakter "The Turn of the Screw“ in der exzellenten Regie von Robert Carsen brillierte das Theater an der Wien zum Auftakt der Saison.

Am Anfang ein Erzähler, der vor der schwarz ausgelegten Bühne von einem Stehpult aus in das Geschehen hineinbegleitet, am Ende die verzweifelte Gouvernante mit dem toten Miles in ihren Armen. Dazwischen spielt sich Brittens "The Turn of the Screw“ ab. Ein stetes Vexierspiel zwischen Wirklichkeit und von Angst erfüllten Träumen, von lebenden und toten Personen, die immer noch unheilvoll gestaltend einzugreifen versuchen, von Missbrauch in jeglicher Form. Alles eingebettet in das Ambiente einer vornehmen englischen Familie des 19. Jahrhunderts. Schließlich ist - auch das eine Botschaft dieser knapp zweistündigen Oper - eine äußerlich korrekte, von sichtbarer Tradition bestimmte Lebensweise immer noch die beste Möglichkeit, Fragen nach Ungereimtem erst gar nicht aufkommen zu lassen. Wenigstens für einige Zeit.

"Die hoffnungsloseste Geschichte“

Ein aktuelleres Sujet hätte sich das Theater an der Wien für seinen Saisonstart gar nicht wählen können als diesen Zweiakter mit Prolog, nach "The Rape of Lucretia“ und "Albert Herring“ Brittens dritte Kammeroper. Im Übrigen ein Zwölftonstück. Britten hat diese Geschichte einer Gouvernante, die über Wunsch des Vormunds zwei Waisenkinder, Flora und Miles, betreuen, ihn dabei nie belästigen soll und sich bald vor so unerwartete wie kaum lösbare Situationen gestellt sieht, aber ebenso als Variationenreihe gestaltet. Zudem setzt er auf Tonartensymbolik. Dem hellen A-Dur der Gouvernante stellt er für Peter Quint, den verstorbenen früheren Diener des Vormunds, der nunmehr als Geist sein Unwesen treibt, das eingetrübtere As-Dur entgegen.

Myfanwy Pipers Libretto nach einer Erzählung von Henry James - zeitgenössische Stimmen nennen sie "die hoffnungsloseste, böseste Geschichte, die man jemals in der Literatur gelesen hat“ - lässt vieles offen, verschränkt Gegenwart und Vergangenheit, vermischt die Identität einzelner Protagonisten, aber auch deren Agieren und Träumen. Ist von Quint oder dem Vormund die Rede, wenn sich die Gouvernante und die Haushälterin Mrs. Grose unterhalten? Was hat es mit dem geheimnisumrankten Tod der unerwartet episodenhaft wieder auftauchenden früheren, längst toten Gouvernante Miss Jessel auf sich? Hat Quint nicht nur sie, sondern - wofür das Finalbild spricht - auch Miles missbraucht? Was hat er so Schreckliches angestellt, dass er der Schule verwiesen werden musste? War es ihre rasch zu höchster Zuneigung anwachsende Sympathie zum (in der Oper nicht auftretenden) Vormund, was die Gouvernante bewog, die Betreuung der beiden Waisenkinder zu übernehmen? Oder ist es ein willkommener Ersatz für ihre unerfüllt gebliebenen sexuellen Wünsche? Wie sehr wollte in diesen oft fratzenhaft skizzierten Visionen Britten - am deutlichsten exemplifiziert durch den mit schräger Virtuosität am Klavier aufwartenden Miles - Teile seiner eigenen Lebensgeschichte aufarbeiten?

Räume mit in die Höhe ragenden Fenstern, intime Kinderzimmer, Schwarz-Weiß-Projektionen, welche die Anreise der Gouvernante zeigen und aufwühlend mit der Vergewaltigung ihrer Vorgängerin konfrontieren, ein einsam in die Gegend ragender Turm mit der in Dunkel getauchten Gestalt Peter Quints: So realistisch wie unheimlich wirken die von der Idee des kontrastierenden Schwarz-Weiß geprägten Bühnenbilder Robert Carsens. Sie passen ideal zu seiner bis ins Detail überlegten Regie, die zum einen klar die Personen zeichnet, zum anderen genug Raum für das Gespaltene, Unbeantwortete von deren Psyche lässt. Nicht belehren, aufrütteln will er mit seiner Inszene. Auffordern, Realitäten nicht als gegeben hinzunehmen, Ungewöhnliches nicht in das unreflektierte Reich der Träume zu verweisen, sondern beides kritisch zu hinterfragen, um daraus persönliche Schlüsse zu ziehen.

Umsichtiger Meister

Nikolai Schukoff, europaweit als Parsifal geschätzt, gibt einen soignierten Erzähler und rollendeckend den geheimnisumrankten Quint. Sally Matthews brilliert als immer wieder vor neue Herausforderungen gestellte Gouvernante. Untadelig Eleanor Burke und Teddy Favre-Gilly in den Rollen der beiden Waisen Flora und Miles. Souverän Jennifer Larmore als Miss Jessel. Eine Studie für sich, vokal wie gestalterisch, Ann Murray als Mrs. Grose. Umsichtig und mit viel Gespür für Details koordinierte Cornelius Meister am Pult des solistisch besetzten ORF-Radiosymphonieorchesters Wien profund das musikalische Geschehen.

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