Ich war ein Unterwegskind

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Ilma Rakusas Erinnerungspassagen führen in den Osten

Geboren als Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Mutter im heute slowakischen Rimavská Sobota, erlebt Ilma Rakusa in den ersten Nachkriegsjahren eine vom Kofferpacken geprägte Kindheit mit den Zwischenstationen Budapest, Ljubljana, Barcola/Triest und der vorläufigen Endstation Zürich. Dort kommt die Familie auf Wunsch des Vaters nach einem Aufenthalt in einem demokratischen Land 1951 an. Ihren Wohnsitz hat die Schriftstellerin, Übersetzerin und Publizistin heute noch dort, aber pedantische Ordnung und emotionale Kälte markieren die Distanz, die sie immer wieder aufbrechen lässt. Als die Staatenlose endlich ihren Schweizer Pass bekommt, führt sie ihre erste Reise nach Prag.

In „Mehr Meer“ zeichnet Ilma Rakusa die Spuren ihres anderen Gedächtnisses nach, denn ihre „innere Kompassnadel zeigt nach Osten“. In rund sechzig „Erinnerungspassagen“ spürt sie den Gefühlen, Gerüchen, Klängen, Farben und Landschaften ihrer Kindheit nach und verknüpft sie mit ihren späteren Lebens- und Leseerfahrungen: „Ich war ein Unterwegskind. In der Zugluft des Fahrens entdeckte ich die Welt, und wie sie verweht. Entdeckte das Jetzt, und wie es sich auflöst. Ich fuhr weg, um anzukommen, und kam an, um wegzufahren.“

Kein Kinderzimmer, aber drei Sprachen

Ilma Rakusa hat zwar kein Kinderzimmer, aber bereits drei Sprachen, „um überzusetzen, von hier nach dort“, ehe sie in die Schule kommt: Ungarisch, Slowenisch/Serbokroatisch, Italienisch. Deutsch wurde schließlich zu ihrem „Fluchtpunkt und Refugium“, in dem sie sich „ein Haus baute“, und die Sprache, in der sie schreibt und in die sie aus vielen Sprachen übersetzt. Zuflucht und Schutz bot schon in Triest nicht nur das durch Jalousien verdunkelte Siestazimmer, sondern auch die Literatur und Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“ wurde später zum prägenden Erlebnis. Auch Musik, Kirchen und Gottesdienste ermöglichten Geborgenheit.

Eine Reisende ist Ilma Rakusa geblieben, geprägt von Glücks- und Abschiedsgefühlen, vom Schaukeln auf den Wellen des Meeres in Triest, den Besuchen am Neusiedlersee bis zu ihren Studienaufenthalten in Paris und Leningrad. Auf ihrer Vermisstenliste rangiert lange Zeit Leningrad weit oben und das „Chorische eines anderen, irgendwie unzielgerichteten Lebensentwurfs“, den sie dort bei den Küchengesprächen mit Freunden kennengelernt hat. Ilma Rakusa ist eine der wichtigsten Vermittlerinnen zwischen dem europäischen Osten und Westen. Sie entwirft eine Poetik des Unterwegsseins, deren Wurzeln in der Kindheit liegen, und erweist sich als präzise Beobachterin, die sich ihre Sehnsucht nach dem Meer und dem Wind bewahrt hat.

Mehr Meer

Erinnerungspassagen von Ilma Rakusa

Droschl 2009. 328 S., geb. e 23,70

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