Kannibalen und ihre Speisekarte

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PEN-Präsident Jiri Grusa gewinnt differenzierte Einsichten in die Fragilität der Welt.

Wenn wir Europäer über Kultur reden, meinen wir meistens die eigene. Und verfallen automatisch in Verzückung." Mit diesen selbstkritischen Worten begann JiÇri Grusa, zutiefst geprägt von einer transnationalen europäischen Kultur, zu der er selbst viel beigetragen hat, im Jahr 2000 eine Rede in Linz. Er sprach nicht nur gegen Osama bin Laden, sondern gegen totalitäre Kulturen - nicht ohne hinzuzufügen, dass ihre Aggressivität auch unser Werk ist. Ihre Kennzeichen: "1. Hass, 2. prophetischer Reduktionismus, 3. Exklusivitätsglauben und 4. Autismus." Dagegen setzt Grusa auf "1. Empathie, 2. Ironie, 3. Respekt vor der Differenz, 4. kommunikative Kompetenzen."

Den Denk- und Lebensweg, auf dem Grusa vom dissidenten Schriftsteller über den Zwangs- Emigranten bis zum tschechischen Botschafter in Deutschland und Österreich und zum PEN-Präsidenten dazu gekommen ist, kann man in seinem neuen Buch mitverfolgen. Früh schon war ihm das Prophetische suspekt - auch das Prophetische des Widerstands: "Diese Haltung muss auf Sanftmut und Verletzlichkeit beruhen - auf dem, was unsere Hoffnung ist. Wir wollen nicht irgendwelche Gegner geifernd bekämpfen - wir wollen jene Werte wieder gewinnen, die wir gelebt haben und denen wir Macht über unser Leben eingeräumt haben." Erstaunliche Worte waren das im Jahr 1968, in dem der Prager Frühling von den Panzern des Warschauer Paktes zermalmt wurde. Grusa hat in der Folge Arbeitsplatzverlust, ein langes Gerichtsverfahren und die Ausbürgerung erfahren, durch die er zum Weltbürger und zum tschechischen Autor in deutscher Sprache wurde. Eine zeitweilige Erblindung nach einem Bluterguss im Gehirn gehört zu den persönlichen Kosten dieses langen Weges.

Einsatz für Menschenrechte

"Der Kannibale beginnt sich nur zu bessern, wenn seine Speisekarte publiziert wird" - diese Einsicht gewann Grusa als Unterzeichner der "Charta 77". Darum setzt er sich als Präsident des PEN-Clubsbesonders für verfolgte Schriftsteller ein und macht ihre Situation publik. Die eigenen Erfahrungen glorifiziert er an keiner Stelle, sondern setzt sie um in Einsichten für heute. Nüchtern werden die "Dissipräsidenten" betrachtet - trotz Grusas persönlicher Nähe zu Václav Havel.

Viel erfahren wir über Tschechien, seine Literatur, Mentalität und Geschichte. Ausführliche Anmerkungen des Herausgebers helfen unserem fehlenden Basiswissen über das Nachbarland kundig nach. Eine besondere Perle ist der Essay über LeoÇs JanaÇcek - er wurde auf Einladung der Furche geschrieben (siehe Nr.33, Seite 11) und ist im Buch erstmals in voller Länge nachzulesen.

Geschichten machen freier

Immer wieder wird das Verhältnis zu Österreich und Deutschland reflektiert - gegen "Geschichte als politisches Kampfmittel" votiert Grusa für eine "Ökumene der Sachlichkeit". Aus dem Wissen, dass wir in Europa kein gemeinsames Familienalbum, kein "gemeinsames Register guter Erinnerungen", sondern "eher ein Straftatenregister unserer Gegnerschaften haben, forderte Grusa als Eröffnungsredner der Leipziger Buchmesse 2004 ein neues gemeinsames Erzählen: "Nicht die Geschichte, sondern die Geschichten werden uns freier machen."

Abstraktem Systemdenken hat Grusa zu misstrauen gelernt, er ist auch hier eher für "solide Unordnung". "Die Welt ist ein weitaus lustigerer Ort, wenn man nicht daran glaubt, ihren Sinn und ihr Ziel erraten zu haben. Und sie ist auch freier - wenn man statt Einsicht in die Notwendigkeit' Einsicht in ihre Fragilität gewinnt", bekannte er bei einem wissenschaftlichen Symposium in Wien. Und er denkt aus der Sprache, sie ist nicht Mittel zum Zweck - das ist sein Widerstand gegen alten und neuen Politsprech, so hat sich der Schriftsteller auch in die offiziellen Funktionen hinübergerettet. Man sollte nicht auf ihn verzichten, wenn es um das Europa von heute geht.

ALS ICH EIN FEUILLETON VERSPRACH.

Handbuch des Dissens und des Präsens. Essays, Gedanken und Interviews aus denJahren 1964 bis 2004.

Von Jiri Grusa.

Hrsg. u. übersetzt von Michael Stavaric.

Czernin Verlag, Wien 2004,

264 Seiten, geb., e 22.10

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