Und doch rückt die Gewalt immer näher …

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Wien darf nicht Chicago werden. Graz schon gar nicht. Deshalb spielt die Grazer Oper Leonard Bernsteins Erfolgsmusical "West Side Story". Eine äußerst sehenswerte Produktion.

Bei der täglichen Zeitungslektüre mögen manchem berechtigte Zweifel darob kommen, ob eine soziale Utopie wie diese Paraphrase von William Shakespeares "Romeo und Julia", festgemacht an Fehden zwischen weißen Halbstarken und einer Latino-Gang von 1955, heute noch gespielt werden muss bzw. kann. Schüler verschiedener Stufen, in die zweite Vorstellung geschleust, lachen, wenn Tony tot umfällt.

Wahrscheinlich lachen die Kinder nur über den Kapselrevolver-Knall, denn sonst hat die Inszenierung des Klagenfurter Intendanten Josef Ernst Köpplinger, der die Produktion nach rund 30 Aufführungen in Graz ans Stadttheater Klagenfurt übernehmen wird, durchaus realistische Härte zu bieten - etwa beim Messerfight Bernardo-Riff, der beiden den Tod bringt. Da ist auch atemlose Stille im Zuschauerraum. Das verstehen alle, dass die Eskalation zwischen Einheimischen und Immigranten sehr schnell tödlicher Ernst werden kann. Da geht einem die ausbrechende sinnlose Gewalt auf jeden Fall nahe. Köpplinger gelingt es, diese atemlose Spannung auch die ganze lange utopische Vision von "Somewhere" lang zu halten und mit der gar nicht lächerlichen Erscheinung der Messeropfer Bernardo und Riff zu toppen.

Die angelsächsischen Jets sind, sobald auch Tony (der Wiener Daniel Prohaska von der Wiener Volksoper mit schmachtender Tenorstimme) verhängnisvollerweise als Rächer Riffs wieder mitspielt, zahlenmäßig in der Mehrheit, nach Riffs (wenig sangesmächtig der Bayer Korbinian Arendt) Tod punkten tänzerisch wie sängerisch die puertoricanischen Sharks. Ein vitales Vollweib ist die durch Bernardos Tod verwitwete Anita (die Türkin Nazide Aylin), die von brutalen Jets überdeutlich vergewaltigt wird.

Der richtige Drive im Orchester

Als Entdeckung, die so exzellent singt wie sie unhektisch emotional berührend spielt, ist die Schweizerin Katja Reichert als Maria zu bejubeln, eine zarte Lichtgestalt, die derzeit auch an der Wiener Volksoper Furore macht. Noch ein Stimmwunder: die köstliche farbige Francisca der Holländerin Conchita Zandbergen. Gediegene Rollenporträts schaffen in den Schauspielrollen des Drugstore-Wirts Doc und des Polizisten Krupke Jakob Glashüttner und Erik Göller. Mäßig das stimmlose Raunen von Previn Moore als Glad Hand in "Somewhere".

Wie wichtig das auf flotter Drehbühne (Rainer Sinell) mit viel Drive inszenierte Musical der Grazer Operndirektion ist, erweist die Besetzung des Premierendirigenten mit dem ersten Kapellmeister Dirk Kaftan, der zuletzt einer musikalisch beachtlichen "Tannhäuser"-Premiere seinen feurigen Stempel aufdrückte. Kaftan hält Exaltationen und Emotionen sicher in hörenswerter Balance, liefert Jazz-Größen wie dem Schlagzeuger Manfred Josel im Orchester den richtigen Drive.

Zurück zur Frage, ob es ein künstlerisch wertvolles Musical vom Range der "West Side Story" schaffen kann, der Gesellschaft einen Spiegel vors Gesicht zu halten und sie zur Umkehr in der Katharsis zu zwingen: Schaut man die Wirkungsgeschichte des gut fünfzigjährigen Werkes an, genügen schon die Grazer Aufführungszahlen von 1974 (Grazer Erstaufführung) und 1994 - zusammen über 100 (!) - zur Argumentation.

Da darf man mit Bernstein & Co. auf Nachhaltigkeit hoffen. Hoffentlich bis nach Wien-Leopoldstadt …

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