1 Schlüssel, 1 Füllhalter, 2 Brillen

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In Schloss Hartheim werden von 1940 bis 1944 nahezu 30.000 Menschen ermordet - und die Spuren der Verbrechen danach sorgsam vernichtet. Der Sammelband "Lebensspuren" zeichnet nun die Biografien von 26 Opfern nach, um sie dem Vergessen zu entreißen.

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In Schloss Hartheim werden von 1940 bis 1944 nahezu 30.000 Menschen ermordet - und die Spuren der Verbrechen danach sorgsam vernichtet. Der Sammelband "Lebensspuren" zeichnet nun die Biografien von 26 Opfern nach, um sie dem Vergessen zu entreißen.

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Die "Aktion T4" beginnt im Frühjahr 1940. An alle Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich werden Meldebögen verschickt, um den "Wert der Arbeitsleistung" aller Bewohner zu erfassen. Eigene "T4-Gutachter" in Berlin entscheiden, wer "der Aktion zugeführt" werden soll. 70.000 Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung oder psychischen Erkrankungen werden in den kommenden Monaten in sechs Tötungsanstalten transportiert; 18.000 landen im oberösterreichischen Hartheim. Im August 1941 kommt es freilich zu einer Änderung der mörderischen Strategie: Fortan werden im Rahmen der "Sonderbehandlung 14f13" KZ-Häftlinge aus Dachau, Mauthausen, Gusen und Ravensbrück nach Hartheim gebracht und hier vergast. Bis Ende 1944 kommen nahezu 30.000 Menschen um.

Dass die dunkle Vergangenheit von Hartheim erst Jahrzehnte später langsam ins Bewusstsein der Öffentlichkeit drang, lag nicht nur an der sorgfältigen Beseitigung aller Spuren - sondern auch am Schweigen und Verdrängen innerhalb der Familien der Opfer. "Dies war vor allem dann der Fall, wenn es sich bei den Ermordeten um Menschen mit Behinderung oder psychischer Krankheit handelte", wissen Florian Schwanninger und Irene Zauner-Leitner, die am heutigen Lern-und Gedenkort Schloss Hartheim tätig sind. In ihrem jüngst herausgegebenen Buch "Lebensspuren" zeichnen Historiker wie auch Angehörige 26 Biografien von Opfern der Tötungsanstalt Hartheim nach - und entreißen sie damit dem Vergessen.

Da ist etwa Sigmund Fettner, geboren am 9. März 1889 im galizischen Horodenko (heute Ukraine) und Vertreter von Konditoreiwaren in Wien. Am 9. September 1939 wird er verhaftet und wie 440 andere "Ostjuden" im Wiener Stadion "anthropologisch vermessen" (s. Bild). Während seine Frau Rosa und die zwei jüngeren Kinder nach Maly Trostinec deportiert und erschossen werden, landet er 1942 im KZ Ravensbrück und später in Hartheim, wo man ihn noch am Ankunftstag vergast. "regret father 15 ACC FETTNER died DACHAU concentration camp 19/10/42" steht wie blanker Hohn in jenem Telegramm, das sein Sohn Ernst nach Kriegsende in London erhalten wird. Offizielle Todesursache: Herz-Kreislaufversagen.

Oder da ist Marie Krammer, geboren am 31. März 1902 in Stockerau, Zweitälteste von sechs Geschwistern einer bäuerlichen Familie und Vorzugsschülerin (s. Bild). Vorerst als Schreibkraft der Nordwestbahndirektion tätig, arbeitet sie später in der Korneuburger Stadtkanzlei, wo sie jedoch 1934 pensioniert wird. "Chronische Schizophrenie" diagnostiziert man in der Heil- und Pflegeanstalt Gugging -und greift zu Insulin-und Schocktherapie.

Perfekte Mord-Bürokratie

Ihre Krankengeschichte endet am 13. Dezember 1940 mit dem Vermerk "in eine der Direktion nicht genannte Anstalt übersetzt." Anfang 1941 erhält ihr Vater Post aus Hartheim: eine Sterbeurkunde (Todesursache: "Lungentuberkulose und Lungenblutung"), ein Paket sowie einen Brief: "Als Wertsachen aus dem Nachlaß [sic!] Ihrer verstorbenen Tochter Maria Krammer werden Ihnen anliegend 1 Stablampe, 1 Battrie [sic!], 1 Messer, 1 Schlüssel, 1 Damenarmbanduhr, 1 Füllhalter, 2 Brillen übersandt.""Die Mord-Bürokratie der Nazizeit funktionierte bei Marie Krammer perfekt", schreibt ihr Neffe Hermann Kittel in "Lebensspuren"."Das jetzt entstandene Manuskript ist der einzige Akt einer Aufarbeitung des Schicksals meiner Tante innerhalb und außerhalb der Familie."

LEBENSSPUREN Biografische Skizzen von Opfern der NS-Tötungsanstalt Hartheim. Von Florian Schwanninger und Irene Zauner-Leitner (Hg.), Studienverlag 2013, 232 Seiten, broschiert, € 19,90.

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