Das Leben im Dschungel von Calais

Werbung
Werbung
Werbung

Noch immer warten Transitmigranten in Nordfrankreich auf eine Möglichkeit, unerkannt nach England zu gelangen. Die Bedingungen werden zunehmend härter.

Wieder nichts gestern Nacht. Zu siebt hatten sie sich drüben am Rastplatz in den LKW geschlichen, Karzan, Mahmud und die anderen. Es folgten 30 rumpelnde Kilometer auf der Küstenautobahn nach Calais, angespannt und mit klopfenden Herzen, vielleicht die letzten auf dem Kontinent. Als die Fahrt langsamer wurde, wussten sie, dass der Hafen erreicht war. Stehen. Anfahren. Wieder stehen. Dann ging die Tür auf, und ungehaltene Beamtenhände zogen die blinden Passagiere aus dem Frachtraum. Schon die erste der drei Kontrollen war Endstation. Den weiteren Ablauf kennen Karzan und Mahmud nur zu gut: ein paar Stunden auf der Polizeiwache, dann der lange Fußweg zurück. Alltag.

Sonderlich enttäuscht ist niemand, als der Dschungel kurz nach Mittag wieder zum Leben erwacht. Aus einer Handvoll Zelten, gespendet von der örtlichen Hilfsorganisation Salam, schälen sie sich heraus auf die Waldlichtung. Hier ist das Basislager der Gruppe junger Kurden, die meisten aus dem Irak, einige aus Iran, und „Basis“ ist durchaus wörtlich zu nehmen: Mehr als einen Wassertank, den Unterstützer der Kommune abringen konnten, Latrinen und Feldduschen, errichtet von Médecins du Monde, gibt es hier nicht. Das Frühstück fällt aus. Es ist Ramadan, und dazu kommen die Freiwilligen von Salam nur einmal wöchentlich mit Lebensmitteln vorbei.

Etwa 15 Flüchtlinge bewohnen den Dschungel von Grande-Synthe, einem grauen Vorort von Dunkerque. Ganz genau weiß das auch Karzan nicht. „Jeden Tag gibt es neue Gesichter hier.“ Der 20-Jährige, dessen Vater für die kurdische Regierung im Nordirak arbeitete, ist seit einem Monat hier. Fast jede Nacht versucht er sein Glück. Fast jeden Morgen kommt er zurück. Karzan blinzelt in die Spätsommersonne. Mahmud, 21, ein Wirtschaftsstudent aus Kirkuk, trottet in Jogginghose und Unterhemd zum Wassertank und wäscht sich. Am Rand der Lichtung stehen Holztafeln. Darauf erklärt das UNHCR auf Kurdisch, Arabisch, Farsi und Englisch: „Sie sind aus Ihrem Land geflohen. Sie sind kein EU-Bürger. Sie sind in Calais ...“, beginnt es.

Brennpunkt der Migration

Dass das Flüchtlingshochkommissariat der UN seit einem Jahr eine Niederlassung in Calais unterhält, zeigt: Die Kanalküste ist ein Brennpunkt auf den Migrationsrouten von den Krisenherden der Welt in ein vermeintlich sicheres Leben in Europa. Dem will Frankreichs Regierung nun ein Ende bereiten: Gemeinsam mit dem britischen Immigration Service wurden die LKW-Kontrollen intensiviert. Lao kann davon ein Lied singen. Eben erst kehrt der 25-Jährige zurück. Frustriert lässt er sich aufs Gras fallen: „Es gibt keine Chance mehr.“

Nicht nur die Dichte der Kontrollen hat sich verändert. Inzwischen geht die Polizei in Calais immer gezielter gegen Transitmigranten vor. In den Autobahn-nahen Dschungel um Dunkerque herum sind die Bewohner vor Verhaftungen weitgehend sicher, erzählt Mathieu Quinette, der die medizinische Versorgung durch Médecins du Monde in der Region koordiniert. In Calais selbst dagegen sind Razzien und willkürliche Festnahmen an der Tagesordnung. Dschungel werden niedergebrannt, die wenigen Habseligkeiten zerstört, die berüchtigte Eliteeinheit CRS setzt Pfefferspray und Tränengas ein. Quinette: „Calais ist das Schaufenster der französischen Einwanderungspolitik. Eine Lösung hat die Regierung nicht. Nur eine Strategie, und die heißt, den Flüchtlingen das Leben unmöglich zu machen.“

Was darunter zu verstehen ist, wissen die Bewohner des Africa House im Zentrum von Calais. Kurz nach Sonnenaufgang bekommen sie dieser Tage meist Besuch von den CRS – manchmal auch nochmal kurz vor dem Abendessen. Die 20 Sudanesen aus Darfur, die dort in einer Baracke ohne Fensterscheiben hausen, müssen dann den verfallenen Hof über Schleichwege verlassen.

Ganz ähnlich sieht der Alltag im Dschungel der Hasaren aus. Die Angehörigen einer afghanischen Minderheit bewohnen den windgepeitschten Dünengürtel beim alten Hovercraft-Terminal. Dahinter donnern die LKWs auf der Autobahn die letzten Kilometer zum Hafen. Auf der andern Seite schimmert die Nordsee türkis, wenn die Wolken aufreißen, ein beinahe groteskes Naturschauspiel als Hintergrund zur täglichen Tragödie. Hinten am Horizont steht zum Greifen nahe England – das vermeintliche Glück.

* Reportage: Tobias Müller

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung