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An den Wurzeln einer neuen Romantik

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„Seit 1965 ig bei Rowohlt die Erste Internationale Anthologie Happenin g-FluxiShvon Becker und mir erschien, veümderten sich auch die Happenings.“ Diese Feststellung steht als Motto über dem neuen Buch „Aktionen“ von Wolf Vostell. Die Art dieser Veränderung wird an verschiedenen Beispielen näher untersucht. Als Exempel dienen: die Demonstrationsformen der Berliner Studentenbewegung, die Studentenrevolte in Berkeley und der Pariser Maiaufstand. Bei diesen „Aktionen“ habe es — nach Vostell — zum erstenmal (sie!) keinen Unterschied zwischen Leben und Kunst gegeben. „Kunst-institute wurden auf ihre Korruptheit und Konzeptlosigkeit hingewiesen (in der Lidl-Aktion auf der docu-menta IV, in den Guerilla Art Actions im Museum of Modern Art in New York).“ Vostell sieht in diesen Ereignissen Verhaltensmuster und Aktionsmodelle von gesellschaftlicher Relevanz. Da auf sie — nach seiner Meinung — die Kriterien des Happenings zutreffen, nimmt Vostell diese politischen oder kulturpolitischen Kampf- und Bekenntnisakte in sein Verzeichnis von „Aktionen“ auf. Es erscheint freilich problematisch, wenn Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei, in denen es um politische Anliegen geht und die nicht selten ganze Stadtviertel, zum Beispiel das Quartier Latin, erfassen, einfach unter dem Begriff „Happening“ vereinnahmt werden.

Es ist fraglich, ob das Kriterium „Stattfinden im Freien an verschiedenen Orten“ dort noch zutrifft, wo eine große Zahl von Akten zwar gleichzeitig, aber unabhängig voneinander gesetzt werden, die zueinander in keinem ursächlichen Zusammenhang stehen. Es ist auch fraglich, ob „Beteiligung des Publikums“ dort unterstellt werden kann, wo zufällig Anwesende von der Polizei mit Gummiknüppeln geprügelt über den Boden geschleift und in

Arrestantenwagen getrieben werden. Jean Jacques Lebel, der die Ereignisse der „Nacht des 10. Mai“ im Quartier Latin als Aktionsmodell beschreibt, reduziert die vielgestaltige Wirklichkeit auf einen winzigen Ausschnitt: Die Barrikade an der Ecke Rue Gay Lussae und Rue St. Jacques zwischen 0.00 Uhr und 6.00 Uhr.

„Du siehst“, schreibt er in diesem Zusammenhang an Wolf Vostell, „was wir (vor allem Cage) seit Jahr und Tag sagen, ist eingetroffen, es gibt keine Grenze zwischen ,Kunst' und .Leben', der permanente schöpferische Prozeß des Lebens als Kunst vollzieht sich wirklich auf Massen-basis, es ist eine kollektive Strömung.“ Man sollte dieser Begeisterung mit Mißtrauen begegnen. Sie hat eine romantische Wurzel und steht in unmittelbarer Nachfolge romantischer Revolutionsmodelle des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Verbindung gibt Lebel selbst den Schlüssel: „Ich habe Courbet bewundert, viel mehr weil er die Colonne Vendome zerstört und an der Commune teilgenommen hat, als wegen seiner Gemälde“. Dem Wegbereiter des neuen „permanenten schöpferischen Prozesses des Lebens als Kunst“ drängt sich als Vergleich für den Pariser Mai eine allegorische Ersatzhandlung, deren psychoanalytischer Aspekt nur allzu durchsichtig ist, auf. Auch der Prozeß gegen die Initiatoren des „Yippie Festival of Live, 1968“, in dem Allan Ginsberg seine berühmte von Mantragesängen unterbrochene Aussage über das Wesen seiner Dichtung machte, sollte nicht als Aktion mit Happeningcharakter bezeichnet werden, weil hier das Kriterium der Publikumsbeteiligung fehlt.

Echte Happenings dagegen waren: das Ausgießen eines Honigtopfes bei der Eröffnung von documenta IV, das Motorradrennen in den Gängen der Münchner Kunstakademie im Februar 1969 und der Marsch des Malers Günther Saree durch die Kölner Innenstadt mit zwei aus Gummimatten und Schaumstoff gefertigten Stempel-Schuhen, die bei jedem Fußtritt das Wort „und“ auf dem Straßenpflaster hinterließen. Echte Happenings waren die Veranstaltungen, die Allan Kaprow an verschiedenen amerikanischen Universitäten vornahm. Aus diesen Veranstaltungen resultiert eine neue Happeningtheorie, deren Postulate allesamt darauf hinauslaufen, Happening und Galeriekunst scharf voneinander abzugrenzen.

„AKTIONEN, HAPPENINGS UND DEMONSTRATIONEN seit 1965, eine Dokumentation von Wolf Vostell. Rowohlt 1970, Paperback Band 45, 472 Seiten, über 160 Abbildungen.

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