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Den Hinterbliebenen Glück!

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Als der gefeierte Bauerndichter Sergei Jessenin am 27. Dezember 1925 in Leningrad Selbstmord beging, schrieb Wladimir Majakowski — wohl die größte hymnisch-lyrische Begabung; die Rußland seit der Jahrhundertwende hervorgebracht hat — ein Gedicht, in welchem er den deprimierenden Eindruck und den schädlichen Einfluß dieser weithin sichtbaren Kapitulation paralysieren wollte. —- Fünf Jahre später, am 10. April 1930, tötete sich Majakowski in seinem Moskauer Büro durch einen Revolverschuß. „Man beschuldigt mich so vieler Dinge und klagt mich so vieler Sünden an .. .“ hatte Majakowski wenige Tage vorher gesagt, und in einem Poem, das aus dem Todesjahr stammt, geschrieben: „Auch mir wächst die Agitpropkunst zum Halse heraus, auch ich schriebe Goldschnitt und Fliederstrauß.“ Aber auch an Selbstbewußtsein fehlt es ihm nicht, wenn er an die Nachkommen, die „Genossen Enkel“, das Wort richtet: „Durchwühlt ihr einst der Jetztzeit Karbon-Petrefakt und studiert unserer Tage dunkles Ge-sprenkel — vielleicht wird dann auch nach mir gefragt.“ Majakowski war überzeugt davon, daß sein Vers „ans Ziel“, gelangen werde. Als Mensch rieb er sich auf in Auseinandersetzungen mit seiner Zeit und ihren Genossen. Aber es ist ganz im dynamischen, zukunftfrohen und lebensbejahenden Stil Majakowskis, wenn sein Abschiedsbrief mit den Worten schließt: „Den Hinterbliebenen Glück!“

Man war gespannt auf den von Klaus Kinski angekündigten Majakowski-Abend im Großen Musikvereinssaal — und wurde recht sehr enttäuscht. Der große, kühne, hymnische Majakowski, dessen mächtige Poeme in fast alle europäischen Sprachen übertragen wurden und von denen viele in die deutschen Expressionistenanthologien passen würden, kam kaum zu Wort, sondern fast ausschließlich der rote Parteidichter, und zwar mit meist schwächeren Stücken — jener Majakowski, von dem Boris Pasternak in seiner Autobiographie schrieb: „Ich verstand seinen propagandistischen Eifer nicht. .. diese dauernde Verbrüderung, diesen Kooperativgeist, diese Unterwerfung, unter die aktuellen Parolen.“ — Kinski sprach die dreizehn Majakowski-Gedichte in der sprachvirtuosen Übertragung von Hugo Huppert, der in einem mehr als 500 Seiten starken Auswahlband (erschienen im Verlag „Volk und Welt“, Berlin) diesem bedeutenden Dichter ein deutsches Denkmal errichtet hat. Aber nicht nur die durch Kinski getroffene Auswahl war wenig befriedigend, sondern auch die Wiedergabe. Der große Strom des Majakowskischen Redeflusses war wie durch schmale, flache Kanäle geleitet. Ebenso gelenkt, und zwar durch die linientreue Gesinnung, schien der Beifall eines zum großen Teil aus jungen Menschen bestehenden Publikums, das an diesem Abend leider nicht erfahren hat, wer Majakowski ist.

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