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Die zwei großen „M“

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Chancen und Hoffnungen jeder revolutionären Bewegung sind unmittelbar verKnüpft mit der Rolle des Intellektuellen in ihr. Während heute drei große M (Marx, Marcuse, Mao) mit unterschiedlicher Strahlungskraft am linken Himmel flimmern, hat man ein M, nämlich Wladimir Majakowski, nahezu vergessen. Doch sollte man sich an ihn erinnern, denn er steht am Beginn einer Entwicklung in der UdSSR, die schließlich zur Verfolgung und Verleumdung der Dichter und Schriftsteller durch die offiziellen Parteiorgane und damit zur Emigration der Intelligenz führte.

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Chancen und Hoffnungen jeder revolutionären Bewegung sind unmittelbar verKnüpft mit der Rolle des Intellektuellen in ihr. Während heute drei große M (Marx, Marcuse, Mao) mit unterschiedlicher Strahlungskraft am linken Himmel flimmern, hat man ein M, nämlich Wladimir Majakowski, nahezu vergessen. Doch sollte man sich an ihn erinnern, denn er steht am Beginn einer Entwicklung in der UdSSR, die schließlich zur Verfolgung und Verleumdung der Dichter und Schriftsteller durch die offiziellen Parteiorgane und damit zur Emigration der Intelligenz führte.

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Für Majakowski gilt die Forderung Marcuses „Phantasie an die Macht“, denn er hatte sie tatsächlich. Er glaubte an den neuen Menschen, ähnlich wie zu gleicher Zeit die deutschen Dichter im Berliner Cafe des Westens. 1916 schloß er sich begeistert der Revolution an, als er aber 1930 Selbstmord beging, haftete ihm bereits, obwohl er jahrelang der offizielle Dichter der Revolution gewesen war, das Stigma des Außenseiters an. Sein Schicksal deutet das der kommenden Generation von Intellektuellen in der UdSSR an. Während in der nachstalinistischen Zeit ein gewisses Wiedererwachen der schöpferischen Kräfte möglich wurde, so zeigen die jüngsten Ereignisse rund um die Emigrafion Kus-nezows, die Entlassung Jewtuschen-kos, das Schicksal der niveauvollen literarischen Zeitschrift „Novy mir“, das dem der Prager Zeitung „Listi“ auf ein Haar gleicht, Tendenzen, die einem Versuch der totalen Auslöschung des geistigen Lebens gleich-komimen. Wo ist, so fragt sich heute wahrscheinlich so mancher russische Schriftsteller, die Revolution, die sich einen Majakowski immerhin leisten konnte? Denn Majakowski war zu keinem Kompromiß bereit. Neu war die Sprache, die er schrieb, frei von formalistischem Zwang, rhythmisch bewegt, explosiv. Sein Lebensgefühl ist einem Ionesco wohl noch am nächsten. Abstruse Figuren tummeln. ,sich in seinen .Stücken, (eine Frau mit einer Träne, ein Mann, dem' ein Ohr fehlt, ein Greis-mit■mageren* Katzen), er spielt auf zum Totentanz der Halbmenschen, Erwachen, aber nicht viel mehr verheißend (Ich werde euch aufschließen mit Worten, einfach wie ein Brüllen). Schon hier ist offensichtlich, daß bei Majakowski das Gefühl für die Absurdität des Lebens ein durchaus modernes Lebensgefühl, stärker ist als der naive Glaube an die Befreiung des Menschen durch die Revolution. Majakowski war ein moderner Mensch mit allen Qualen und

Ängsten eines solchen. Trotzdem hing er an der Hoffnung, die Revolution werde ein neues Zeitalter einleiten, mit ebensoviel Selbstverachtung wie Idealismus.

Während nun das System immer mehr erstarrt und die Intelligenz zum Schweigen verurteilt, verkündet ein Philosophieprofessor im Amerika, selbstverständlich gestützt auf die in Demokratien nun einmal herrschende Redefreiheit, daß der Mensch zu voller Freiheit nur auf der Basis der kommunistischen Gesellschaftsordnung gelangen könne. Man werde mit dieser Tatsache, die fast selbst wie ein absurdes Theaterstück anmutet, fertig wie man will, sie ist nun einmal eine Gegebenheit, die aus der Offenheit des einen und der totalen Geschlossenheit des anderen Gesellschaftssystems resultiert. Das Reporterteam, das das in der Reihe „Arche nova“ veröffent-

lichte Gespräch mit Marcuse führt, ist sich dieser Situation bewußt, der Stil des Interviews ist ebenso elegant wie ironisch. Marcuse hat zweifellos die Gefährdungen der technologischen Gesellschaft erkannt. Es gibt heute kaum jemanden mehr, der sich nicht manipuliert fühlt. Um so besser. Auch der Welle der Romantik, die fast wie eine Art Notwehr gegen eine verplante und veradministrierte Welt wirkt, gibt Marcuse eine gewisse theoretische Grundlage (Es gibt keine freie Gesellschaft ohne Stille). Vergleicht man ihn mit dem Dichter Majakowski, so muß man feststellen, daß der Kampf innerhalb des Systems, selbst wenn er mit dem Untergang des einzelnen endet, ehrlicher ist als der Kampf außerhalb, der außer dem Beschuß mit Tomaten bei einer Studentenversammlung keinerlei Risken enthält

VERS UND HAMMER, Gedichte und kleine Schriften von Wladimir Majakowski. Verlag die Arche, Zürich. 143 Seiten, sfr 4.80. ÜBER REVOLTE, ANARCHISMUS UND EINSAMKEIT, Gespräch mit Herbert Marcuse, Verlag die Arche, Zürich. 48 Seiten, sfr 2.80 (beide in der Reihe „Arche Nova“.

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